STRATEGIE11. Mai 2020

Was die „neue Normalität“ für Kernbankensysteme bedeutet

Die Wirtschaft ist nach der Pandemie in einer neuen Situation – darauf müssen sich Banken einstellen. Die Experten von ISG haben Anforderungen für kurz-, mittel- und langfristige Änderungen an die Kernbankensysteme ermittelt und geben praktische Tipps.

Modulare Lösungen sollten gewachsene Kernbankensysteme ablösen, um diese krisenfest zu machen.<q>A-Image / Bigstockphoto
Modulare Lösungen sollten gewachsene Kernbankensysteme ablösen, um diese krisenfest zu machen.A-Image / Bigstockphoto

 

Die Corona-Pandemie hat auch für Banken ganz konkrete Konsequenzen. Da gilt es beispielsweise den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten, auch wenn große Teile des Personals im Home-Office arbeiten müssen. Inwieweit die Kernbankensysteme remote-fähig sind, ist somit eine Frage, die existenzentscheidend sein kann. Das Abstands-Gebot hat Auswirkungen auf die Kundenbetreuung. Denn ein zunehmender Teil der Bevölkerung wird digitale Services der persönlichen Beratung vorziehen, um die physische Nähe zu vermeiden.

Und nicht zuletzt ist die Wirtschaft nach dem wochenlangen Lockdown und des absehbaren Einbruchs von Produktion und Handelsbeziehungen unter großem finanziellen Druck. Unternehmenskunden sind daher gezwungen, Kosten einzusparen und dabei auch Bankengebühren auf den Prüfstand stellen.

Größte Baustelle: „Spaghetti-Systeme“

Das ist das Ausgangsbild, das die ISG-Experten Yadu Singh, Bill Huber und Owen Wheatley in Hinblick auf die Finanzbranche zeichnen. Im Vergleich zu der Finanzkrise 2008/2009 seien die Institute zwar kapitalstärker aufgestellt und zumindest an dieser Stelle nicht so stark gefährdet. Aber auf technischer Seite sehen sie eklatante Schwächen.

Die Digitalisierung sei in den vergangenen zehn Jahren nicht in ausreichendem Maße vorangekommen. Interne Prozesse und Vorgaben führten zu einer Politik der kleinen Schritte, die nur in Ausnahmefällen durchbrochen wird. So habe beispielsweise JP Morgan Chase in Großbritannien eine digitale Bank „auf der grünen Wiese“ errichtet, um ein komplett neues Kundensegment adressieren zu können.

Das größte Problem sehen die ISG-Experten in den Altsystemen, die über die Jahre unkontrolliert gewuchert sind und zu „Spaghetti-Strukturen“ führten, die unübersichtlich, schwer zu managen und teuer in der Instandhaltung sind. Sie plädieren dafür, die derzeitige Phase mit geringerer Auftragslast zu nutzen, um einen gründlichen Frühjahrsputz in Angriff zu nehmen.

Kurz- und mittelfristige Ansätze

Als wichtigste kurzfristige Maßnahme sehen Singh, Huber und Wheatley die Überprüfung der Prozesse zur Sicherung der Business Continuity. Hier seien alle Banken aktiv geworden und damit auf einem guten Weg, um mit angepassten Plänen auf die „neue Normalität“ reagieren zu können.

Anders sieht es in der mittelfristigen Perspektive aus. Der Schlüssel zum Erfolg liege hier in einer Flexibilität, mit der schwankenden Nachfrage die Geschäftsaktivitäten nach oben und unten anpassen zu können. Nach der Einführung des Internet-Bankings sei der nächste Schritt zur Modernisierung und Digitalisierung der Bankensysteme eine konsequente Modularisierung der Kernbankensysteme. Dann können nach Bedarf Module und Ressourcen hinzugefügt oder entfernt werden.

Doch sei man sich bewusst, dass die Umstellung der in Jahrzehnten gewachsenen Legacy-Systeme auf modulare Lösungen in der aktuellen Corona-Krise schwierig sei. Ein kompletter Austausch – in Form eines „Urknalls“ – sei in der Regel nicht praktikabel: zu riskant, zu zeitaufwändig und zu kostspielig. Dies müsse man im Einzelfall aber prüfen, auch in Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Lösungen. Es gebe inzwischen beispielsweise White-Label-Angebote für „Bank in a Box“ und „Bank as a Service“, wie das neue T24-Kernbankensystem des Bankensoftwareherstellers Temenos.

Konsequente Schritte gehen

Als logische Alternative biete sich ein schrittweises Vorgehen an, so die ISG-Autoren. Bei der Prüfung der infrage kommenden Lösungen sollten Banken verschiedene Aspekte des Anbieters prüfen.

An erster Stelle steht hier das Geschäftsmodell, das einer flexiblen Nutzung gerecht werden sollte. Kann die Wartung ausgesetzt werden, wenn ein Modul zeitweise nicht genutzt wird? Können Lizenzen zurückgegeben werden? Sind die Lizenzkosten konstant oder skalieren sie mit steigender Nutzung?

Daneben geht es natürlich um die technischen Aspekte: Sind die Module überhaupt in bestehende oder in zukünftige Kernbankensysteme und Plattformen zu integrieren? Wie hoch ist der Aufwand, wie groß das Risiko? Wie können mittels KI (künstlicher Intelligenz, ML (Machine Learning) oder anderer Technologien messbare Ergebnisse auf Basis von Daten und Markterkenntnissen erzielt werden?

Schließlich soll die Transformation der Back-Office-Systeme zur Steigerung des Umsatzes und letztlich zu produktiveren Kundenbeziehungen beitragen. Konsequent zu Ende gedacht müsse sich die Transformation wirtschaftlich selbst tragen – nur so könne man den in der aktuellen Lage unvermeidlichen Budget-Begrenzungen entgehen und gegenüber Unternehmenskunden attraktivere Gebührenmodelle schaffen.

Auf dem Weg zur Plattform-Ökonomie

Ein Teil der Anbieter von Kernbanksystemen haben bereits reagiert und schaffen ganze Ökosysteme, aus denen Banken Best-of-Breed-Module auswählen können. Ein Beispiel hierfür sei der Marketplace Mambu, auf dem eine zunehmende Anzahl von Partnern vertreten ist, die Cloud-fähige Best-of-Breed-Apps, -Produkte und -Tools anbieten, um Finanzinstituten beim Aufbau neuer Architekturen zu helfen.

Neben Lösungen zur digitalen Kundenschnittstelle finden sich hier auch KI- und ML-Module, die beispielsweise dazu beitragen, Fehler zu erkennen und zu beheben oder bislang unerkannte Muster in vorhandenen Daten zu identifizieren.

Langfristig offener agieren

Eines hat die Krise gezeigt: Die strategischen Planungen dürfen nicht in Stein gemeißelt sein, sie können von der aktuellen Entwicklung überholt werden. Legacy-Systeme, die nicht remote bedient werden können – und dazu zählen viele Mainframe-Systeme – sind veraltet und müssen abgelöst werden.

Dies kann Schritt für Schritt erfolgen, indem einzelne Funktionen durch Module abgelöst werden, die über Cloud oder sichere lokale Schnittstellen Home-Office-fähig sind. Und hier schließt sich der Kreis, denn diese Systeme werden auch bei Themen wie Disaster Recovery und Business Continuity auf die „Neue Normalität“ besser vorbereitet sein. So werden sich langfristig Kernbankensysteme wesentlich krisenfester gestalten. hj

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