STRATEGIE9. August 2024

T+1 … die Realität hinter dem Hype: Was DLT wirklich leisten kann

Christoph Lehl, Spectrum Markets Spectrum Markets

Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) verspricht tiefgreifende Veränderungen im Wertpapierhandel und der Abwicklung von Finanztransaktionen. Doch zwischen Vision und Praxis klafft oft eine große Lücke. Christoph Lehl, COO von Spectrum Markets, erläutert die Herausforderungen, die eine Umsetzung in die Realität mit sich bringt und über zu hohe Erwartungen an die Distributed-Ledger-Technologie.

von Christoph Lehl, COO Spectrum Markets

Von der Entdeckung einer neuen Idee, einer neuen Technologie oder eines neuen Wirkstoffs bis zur Umsetzung in ein Produkt und dessen Serienherstellung vergehen auch im Zeitalter der Digitalisierung noch immer Jahre. Natürlich können effizientere Produktionsverfahren oder die Nutzung bereits vorhandener Plattformen oder Module bestimmte Prozesse beschleunigen. Design, Simulationen, Tests, Prototypen, Entwicklungsprozesse, erneute Tests und Zulassungsverfahren nehmen jedoch viel Zeit in Anspruch.

Was im industriellen Kontext unbestritten ist, scheint im Finanzsektor jedoch weit weniger akzeptiert zu sein.”

Auch hier müssen Produkte oder Dienstleistungen erhebliche Hürden überwinden, bevor sie die Marktreife erlangen. Auf der einen Seite steht natürlich die Regulierung, die sich in den vergangenen 15 Jahren in jeder Hinsicht erheblich weiterentwickelt hat, sowohl in Bezug auf die Gesetzgebungskompetenz selbst als auch in Bezug auf die länderübergreifende Harmonisierung und Durchsetzung von Regeln.

Ein weiterer Aspekt, der bei aller Euphorie um neue Technologien oft vergessen wird, ist der erreichbare Grad an Standardisierung – nicht nur von Produkten oder Dienstleistungen, sondern auch von den zugrundeliegenden technischen Geschäftsprozessen.”

Die entscheidenden Fragen sind aber in jedem Fall: Wie hoch sind die Effizienzsteigerungen, Komfortgewinne oder Kostensenkungspotenziale tatsächlich und zu welchem Preis lassen sie sich realisieren?

Christoph Lehl, Spectrum Markets
Christoph Lehl ist Chief Operations Officer bei Spectrum Markets (Website) seit 2019. Zuvor war er bei Eurex als Head of Infrastructure tätig, wo er umfassende operative und IT-Kenntnisse für den Betrieb regulierter Märkte, IT-Infrastrukturmanagement, Informationssicherheit, regulatorische Anforderungen (einschließlich Dokumentation und Audit-Management), Handelssysteme und Digitalisierung erwarb.
Seit 2009 der erste Bitcoin-Block erzeugt wurde, elektrisiert die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) die Phantasie einer breiten Öffentlichkeit. Seit rund zehn Jahren werden die Vorteile einer Datenhaltung in dezentral verteilten Netzwerken auch für diverse Anwendungsfälle im Wertpapierbereich immer wieder betont. Feldversuche bei Emission, Handel oder Abwicklung lassen auch wenig Zweifel an der grundsätzlichen Machbarkeit. Und insbesondere bei der Abwicklung ist die Phantasie groß, dass es dank DLT schon sehr bald signifikante Fortschritte geben wird.

Die Einführung des T+1 Settlement-Zyklus in den USA im vergangenen Mai hat diese Idee erneut beflügelt.”

Worum geht es dabei? Die US-Wertpapieraufsichtsbehörde SEC hat verfügt, dass der Abwicklungszyklus für Transaktionen seit dem 28. Mai 2024 von zwei auf einen Tag nach der Ausführung der Transaktion verkürzt werden muss. Betroffen davon sind etwa Banken, Broker und Clearing-Stellen, die Transaktionen in Aktien, Unternehmens- und Kommunalanleihen, Asset Backed Securities, Optionsscheinen, Geldmarktinstrumenten oder Fonds abwickeln. Die SEC begründete dies mit weniger volatilen, stabileren Märkten und höherer Liquidität. Inwieweit die Verkürzung auf den T+1 Zyklus zur Erreichung dieser Ziele beitragen wird, bleibt abzuwarten.

Nutzen einer weiteren Verkürzung des Abwicklungszyklusses

Wenn eine Verkürzung des Abwicklungszyklus auf T+1 solche Vorteile bietet, sind Fragen nach einer weiteren Verkürzung naheliegend. Genauer, kann man den Zyklus noch weiter verkürzen, wie weit müsste dieser verkürzt werden, um wirklich effektiv zu sein und ist eine technische Umsetzung unter Praxisbedingungen ökonomisch darstellbar?

Der erhebliche Aufwand einer Umstellung auf die gesamte vor- und nachbörsliche Marktinfrastruktur – seien es Betriebsmodelle, Verarbeitungsprozesse oder Schnittstellen oder die entsprechenden Entwicklungsaufwände für deren Anpassungen – macht schnell deutlich, dass der Schritt von T+1 auf zum Beispiel T+0,5 nur wenig Anreize für eine Umsetzung böte.

Wirklich effizient wäre eine Verkürzung auf T+0 oder, anders ausgedrückt, eine zur Transaktion simultane Abwicklung.”

Denn ein valides Argument ergibt sich im Zusammenhang mit der Verringerung des Markt- und Kontrahentenrisikos offensichtlich aus der Verkürzung der Dauer, in der die Marktteilnehmer diesen Risiken ausgesetzt sind, auf Null.

Die Technologie, die genau das verspricht, ist die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) und zwar durch die Tokenisierung von Wertpapieren, Kontenabgleichs- und Zahlungsprozessen. Wenn beispielsweise ein Prozess zum Zeitpunkt der Orderausführung gleichzeitig die physische Verfügbarkeit eines zu verkaufenden Wertpapiers im Depot des Verkäufers und das Vorhandensein freier Geldmittel auf dem Konto des Käufers feststellen kann, würde das den Kapitalbedarf, das Liquiditätsrisiko oder das Wiederbeschaffungsrisiko erheblich reduzieren. Es würde darüber hinaus das unmittelbare Clearing von Cash-Transaktionen überflüssig machen.

Wo ein Clearing weiterhin erforderlich ist, könnten Smart Contracts theoretisch weite Teile des Collateral Managements ersetzen.”

Durch den Einsatz von DLT und die damit verbundene Möglichkeit, auf Buchungseinträge bzw. die jeweils erforderlichen Bestätigungsschritte zu verzichten, so die Annahme, könnten Zentralverwahrer ihre Bedeutung als Notar bei der Abwicklung zwischen den Transaktionsgegenparteien verlieren. Soweit zu den theoretischen  Anwendungsfällen. Aber wie sieht es mit der praktischen Umsetzung aus? 

Werden das Clearing von Cash-Transaktionen und Zentralverwahrer überflüssig?

Um abschätzen zu können, wie weit der Weg von der Theorie zur Praxis noch ist, müssen folgende, miteinander zusammenhängende Fragestellungen beantwortet werden: wie simultan sind Blockchain-basierte Transaktions-/ Abwicklungsprozesse derzeit, wie stabil, performant und sicher sind die Netzwerke, auf denen die jeweiligen Protokolle basieren, welche Transaktionskosten stehen hierfür zu Buche, wie einheitlich oder zumindest kompatibel sind die Schichten verschiedener DLT-Architekturen untereinander und in Verbindung zu der Welt der physischen Assets und, nicht zu vergessen, was ist das rechtliche Rahmenwerk für die jeweiligen, auf der Basis einer DLT-Infrastruktur abzubildenden Prozesse.

Nimmt man hier nur die Frage nach der Simultanität heraus, wird schnell deutlich, dass die Latenz einer DLT-basierten Abwicklung nicht nur im Vergleich zu herkömmlichen Abwicklungszeiten zu betrachten ist, sondern auch im absoluten Vergleich zu sich selbst.

Das bedeutet, dass die Latenzzeiten für dieselbe Art der Transaktion in Abhängigkeit vom Netzwerk starken Schwankungen unterliegen kann.”

Diese Schwankungen sind wiederum auf Faktoren zurückzuführen, die die Kosten für die entsprechende Transaktion direkt beeinflussen.

Aus dem Kryptohandel ist bekannt, dass Gebühren zwar meist einheitlich erhoben werden, aber im Vergleich eher hoch sind, weil sie Durchschnittswerte einer starken Schwankungsbreite darstellen. Auch werden Transaktionen vielfach nicht einzeln, sondern auf aggregierter Basis ausgeführt, was unter anderem die Frage nach der Absorptionsfähigkeit von Ledger, Konsensusmechanismen und Netzwerk für Millionen von Transaktionen aufwirft.

Mit Blick auf herkömmliche Wertpapiertransaktionen und die daran beteiligten institutionellen Parteien ist es jedenfalls nicht attraktiv, auf Plattformen zu wechseln, für die die Ausführungssicherheit (sowohl im Sinne von Ausführungswahrscheinlichkeit als auch der Cybersicherheit), der Ausführungszeitpunkt und die Gebühren für die jeweilige Transaktion variable Faktoren sind. Dabei ist die Tatsache unerheblich, dass es sich bei den Schwankungen nicht um willkürlich festgelegte, sondern systemisch bedingte Preisänderungen handelt.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre der „Verzicht auf den Mittelsmann“ in Form des Wertpapierabwicklers schon bedeutend weniger reizvoll, abgesehen von der Tatsache, dass dies auch rechtlich überhaupt noch nicht möglich ist. Denn noch besteht die Pflicht zur Beauftragung eines Drittverwahrers mit der Abwicklung von zum Handel an einem Handelsplatz zugelassenen Wertpapieren. Und die Trennung zwischen Marktbetreiber und Abwickler als unabhängigem Dritten würde auch nur dann zur Disposition stehen, wenn dadurch entstehende Interessenkonflikte technisch ausnahmslos unterbunden werden könnten. Hierzu müsste ein Wertpapierregister synchron mit dem Distributed Ledger aktualisiert werden, auf dem auch die Transaktion abgebildet ist. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Diskussion um DLT-basierte Abwicklung ist auch das Asset Servicing. Zwar lassen sich die Abwicklung von Dividendenzahlungen, Kapitalmaßnahmen oder auch Vollmacht und Weisungen an Stimmrechtsvertreter theoretisch über Smart Contracts abbilden, bislang gibt es hier jedoch noch keine, geschweige denn zuverlässige und ökonomisch sinnvolle Alternativlösung zum Status Quo.

Man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit der Schritte in der Wertpapierprozesskette bereits heute weitgehend digitalisiert erfolgt. Insofern liegen die Latenzzeiten bei der Abwicklung von Krypto-Transaktionen über DLT mit wenigen Minuten zwar deutlich unter dem neuen T+1-Standard.”

Jedoch würde jede weitere Verkürzung der Abwicklungszeiten angesichts der oben genannten Aspekte so lange dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens folgen, bis sie tatsächlich Null erreicht hat. Erst dann würde auch auf aufsichtsrechtlicher Ebene erwogen werden können, ob das durch den Verzicht auf eine Drittpartei als Abwicklungs- und Verwahrinstanz Risiko von Interessenkonflikten oder Manipulationen tatsächlich zu vernachlässigen ist.

Die Rolle von Kryptowährungen

Selbst wenn diese Hürden zeitnah überwunden werden können, bleiben ein paar weitere, etwa in Verbindung mit komplexeren Transaktionen bzw. Transaktionen, deren Abwicklung komplexer ist, wie etwa die von Wertpapierleihgeschäften. Und wenn dann auch diese Hürden genommen sind, bleibt die Frage nach einheitlichen oder zumindest hoch kompatiblen Standards. Diese müssen von Aufsichtsbehörden und Marktteilnehmern als vertrauenswürdig und als zukunftsfähig erachtet werden.

Und ganz nebenbei sei in diesem Zusammenhang auch daran erinnert, dass eine Krypto-Transaktion, die über ein DLT-Netzwerk abgewickelt wird, ja auch in irgendeiner Währung denominiert sein muss.

Damit die Konvertierung in eine Fiat-Währung nicht weitere Aufwände und Risiken verursacht, müsste dies idealerweise ein anerkanntes digitales Zahlungsmittel oder Kryptowährung sein, was wiederum Fragen nach Liquidität, Sicherheit und Akzeptanz der entsprechenden Währung nach sich zieht.”

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Notwendigkeit der Verbindung beider Welten – die von DLT-Marktinfrastrukturen, sobald es sie gibt und „Legacy“-Elementen wie Geldkonten – noch für einige Zeit bestehen wird.

Ich glaube, spätestens hier wird deutlich, warum die Entwicklung im Bereich Marktinfrastrukturprozesse auf der Basis von DLT bereits viel Zeit verschlungen hat und – bei allem unbestrittenen Potenzial – auch weiterhin nicht in rasantem Tempo verlaufen wird. Chrstoph Lehl, Spectrum Markets/aj

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