Wesentlicher Wettbewerbsvorteil mit S/4HANA? Marco Lehmann (KPMG) im Interview
Technologischer Wandel ist selten ohne Herausforderungen – so auch der Übergang zu S/4HANA. Marco Lehmann, Leiter von SAP & Finance Transformation bei KPMG, stellt sich unseren Fragen zur Analyse der Prozesse, Potenziale und zu den auftretenden Hürden.
Herr Lehmann, wie ist der aktuelle Stand der Umstellung auf S/4HANA seit 2015 und wie viele Unternehmen haben ihre Systeme aktualisiert?
Die Umstellung auf S/4HANA hat seit Beginn der Transitionsphase im Jahr 2015 stetig zugenommen. Viele Unternehmen haben ihre Systeme bereits aktualisiert – aber längst noch nicht alle.Die Umstellung auf S/4HANA kann ein komplexer und zeitaufwändiger Prozess sein, der eine umfassende Planung, Vorbereitung und Migration erfordert.”
Einige Unternehmen benötigen daher mehr Zeit, um die Umstellung abzuschließen. Das deckt sich mit den Aussagen der Unternehmen, die wir im Rahmen des Whitepapers „S/4HANA mit Durchblick” zum aktuellen Stand der Transformation befragt haben. Viele stehen noch ganz am Anfang der Planung, sind gerade erst gestartet oder befinden sich in der Vorbereitungsphase.
Darum verlängerte SAP auch die ursprüngliche Frist von 2025 auf 2027. Bis dahin müssen alles Systeme aktualisiert worden sein.”
Wann sehen Unternehmen keinen Mehrwert in der Umstellung auf S/4HANA und wie wollen Sie diese Unternehmen überzeugen?
Einer der Gründe ist sicher, dass Unternehmen bereits ein funktionierendes und stark integriertes ERP-System haben, das ihren Anforderungen entspricht. In diesem Fall kann die Umstellung auf S/4HANA als reiner technischer Upgrade-Aufwand angesehen werden.
Einige Unternehmen verfügen zudem nicht über ausreichende Ressourcen und Fähigkeiten, um die Umstellung auf S/4HANA durchzuführen. Insbesondere angesichts des Fachkräftemangels kann dies ein schwerwiegendes Hindernis darstellen.”
Es gibt jedoch viele strategische Vorteile und neue Potenziale, die ein Unternehmen durch eine Umstellung auf S/4HANA erschließen kann, insbesondere im Zuge der Anpassung an die sich verändernden Märkte. Allen voran die Möglichkeit, Geschäftsprozesse zu optimieren, zu harmonisieren und zu automatisieren. Dies führt zu Kosteneinsparungen und effizienteren Betriebsabläufen. Darüber hinaus bietet S/4HANA Echtzeit-Einblicke in Geschäftsdaten, die Unternehmen dabei unterstützen können, fundierter Entscheidungen zu treffen.
Nicht zuletzt ermöglicht S/4HANA es Unternehmen, die digitale Transformation und die Integration neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz stärker in Prozesse einzubinden.”
Dies kann zu einem wesentlichen Wettbewerbsvorteil führen.
Welche Projektansätze werden gewählt und welche Vorgehensweisen empfehlen Sie?
Die beiden geläufigsten Ansätze sind der „Greenfield-Ansatz“ und der „Brownfield-Ansatz“ – also entweder die vollständige Neuimplementierung von S/4HANA oder eine Migration von bestehenden Systemen auf S/4HANA.”
Wobei grundsätzlich gilt, dass beide Begriffe aus dem Lehrbuch stammen und in der Realität meist nicht in Reinform anzutreffen sind. Im Einzelfall gilt es also immer zu prüfen, ob sich eher der eine oder der andere Ansatzpunkt lohnt, der als Startpunkt für Kombinationsmodelle gewählt wird. Beispielsweise lohnt es sich nicht immer und nur aus Prinzip, alle „alten Zöpfe“ abzuschneiden. Oft hat es nämlich gute Gründe, warum sich bewährte Vorgehensweisen und Prozesse in Unternehmen etabliert haben. Nach unserer Erfahrung lohnt es sich beim Projektansatz daher einerseits völlig neue Ansätze zu bedenken, vor allem für die wichtigsten Ziele, und gleichzeitig auch Kompromisse hinzunehmen – für Themen von geringerer Bedeutung.
Denn häufig ist es am Ende eine Kombination aus beiden Ansätzen, die am besten funktioniert. Um zu klären, wie genau der „maßgeschneiderte Mittelweg“ aussieht, eignen sich Vorprojekte.”
Unabhängig vom gewählten Ansatz empfehle ich Unternehmen, im Rahmen eines solchen Vorprojekts alles gründlich zu planen und vozubereiten, bevor sie mit der eigentlichen Umstellung auf S/4HANA beginnen. Ein gut durchdachter und strukturierter Ansatz ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Umstellung auf S/4HANA. Dies umfasst, die bestehenden Systeme und Prozesse detailliert zu analysieren, sinnvolle Anpassungen und Optimierungen zu identifizieren, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei einzubeziehen und vorzubereiten sowie einen umfassenden Migrationsplan aufzustellen.
Gibt es besondere Herausforderungen und Aspekte bei der Umstellung auf S/4HANA für Unternehmen in der Finanzindustrie?
Die Umstellung auf S/4HANA für Unternehmen in der Finanzindustrie bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, von denen ich hier zwei herausgreifen möchte.
Allen voran unterliegt die Finanzindustrie strengen regulatorischen Anforderungen, die auch bei der Umstellung auf S/4HANA beachtet werden müssen.”
Zum Beispiel müssen Datenintegrität und -sicherheit gewährleistet sein, um Compliance-Anforderungen zu erfüllen.
Zudem ist die Finanzindustrie bekannt für ihre Komplexität und ihre großen Datenmengen.
Die Umstellung auf S/4HANA erfordert daher eine sorgfältige Planung und Vorbereitung, um sicherzustellen, dass alle Daten und Prozesse ordnungsgemäß migriert werden.”
Unternehmen in der Finanzindustrie nutzen oft eine Vielzahl von spezialisierten Systemen, um verschiedene Aufgaben zu erledigen. Bei der Umstellung auf S/4HANA muss sichergestellt werden, dass diese Systeme in das neue System integriert werden können.
Zwei entscheidende Erfolgsfaktoren bei beiden genannten Punkten sind, dass alle Anforderungen erfüllt werden und gleichzeitig eine reibungslose Umstellung erfolgt, bei der die laufenden Prozesse nicht beeinträchtigt werden.
Wie könnte ein erfolgreicher Change-Management-Prozess im Rahmen einer S/4HANA-Implementierung aussehen?
Unserer Erfahrung nach gibt es einige zentrale Eckpunkte, die einen erfolgreichen Change-Management-Prozess in diesem Zusammenhang auszeichnen.
Die aktive Einbindung von Stakeholdern – angefangen bei den Entscheidern bis hin zu den wichtigsten Nutzern – ist von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche S/4HANA-Implementierung.”
Diese sollten von Anfang an in den Projektprozess involviert werden und eine klare Rolle und Verantwortung zugewiesen bekommen. So können sie sicherstellen, dass ihre Bedürfnisse und Anforderungen berücksichtigt werden und eine breitere Akzeptanz im Unternehmen geschaffen wird. Darüber hinaus ist eine effektive und offene Kommunikation ein wichtiger Erfolgsfaktor des Change-Management-Prozesses. Dabei ist es entscheidend, die Bedürfnisse und Erwartungen der verschiedenen Stakeholder-Gruppen zu berücksichtigen und die Botschaften entsprechend anzupassen.
Eine kontinuierliche Kommunikation über den gesamten Projektzeitraum hinweg sorgt dafür, dass alle Beteiligten auf dem Laufenden bleiben und Veränderungen aktiv mitgestalten können.”
Für unverzichtbar halte ich außerdem, dass eine nachhaltige Lern- und Fehlerkultur etabliert wird und die Lernerfahrungen im laufenden Transformationsprozess berücksichtigt werden. Ein ideales Instrument dafür sind Pilotbereiche bzw. -gesellschaften. Eine Pilotgesellschaft bildet den Anfang für Konzerne, um wichtige Aspekte der Umstellung einmal durchgespielt und auf Risiken geprüft zu haben. Die darin gemachten Erfahrungen können das Risikomanagement im Projekt verbessern. Dazu identifizieren sie Trainingsbedarfe oder technische Abhängigkeiten, um die Planungssicherheit im Management zu erhöhen.
Durch Tests und Risikoanalysen in kleinen Schritten wird das Risiko des gesamten Transformationsprojekts reduziert.”
Wie will SAP Banken und Versicherer bei der Umstellung auf S/4HANA unterstützen und welche Ressourcen und Tools stehen zur Verfügung?
SAP stellt zahlreiche Ressourcen, Tools und Best Practices zur Verfügung, um Banken und Versicherer bei der Umstellung auf S/4HANA zu unterstützen. Beispielsweise können Unternehmen mit dem „Readiness Check“ die Kompatibilität ihrer bestehenden Systeme mit der neuen Version bewerten. Darüber hinaus gibt es Tools, die Transparenz über die Prozesse und bestehende Datenbestände schaffen und somit den Startpunkt der Transformation setzen. Außerdem ist durch die Gründung von SAP Fioneer ein weiterer Marktakteur entstanden, der bei der Gestaltung von Projekten in der Industrie mitberücksichtigt werden sollte.
In meinen Augen besteht die Herausforderung weniger in der Verfügbarkeit von Tools, als in der intensiven Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen aus Voranalysen und klaren Zielformulierungen für die dann folgenden Projekte.”
Hierbei ist ein hohes Maß an Fachexpertise aus den Unternehmen und von externen Dienstleistern erforderlich, und die Projektpläne müssen ausreichend Zeit für gut durchdachte Lösungswege mit diversen Stakeholdern vorsehen.
Welche Erfolgsfaktoren und Best Practices haben sich bei der Implementierung von S/4HANA im Finanzsektor herauskristallisiert?
Speziell für den Finanzsektor lassen sich drei Faktoren besonders herausgreifen: Erstens spielen angesichts der Komplexität der Umstellung eine realistische Projektplanung und -steuerung eine zentrale Rolle bei der Implementierung.
Der Projektplan sollte eine klare Zeitachse, überprüfbare Meilensteine und Aufgaben umfassen, die von einem Projektmanager überwacht werden.”
Zweitens sollte große Sorgfalt auf die Auswahl der richtigen Implementierungsmethode gelegt werden. Insbesondere ist bei der Verwendung von agilen Vorgehensweisen wichtig, Sicherheit und Struktur – etwa in Form von Meilensteinen – in die Transformationsprojekte zu bringen.
Drittens endet eine erfolgreiche Implementierung von S/4HANA nicht mit dem Go-Live.”
Vielmehr ist es wichtig, die Leistung und die Prozesse kontinuierlich zu überwachen und zu optimieren, um sicherzustellen, dass das System den hohen Anforderungen entspricht und sein volles Potenzial tatsächlich genutzt wird.
Herr Lehmann, vielen Dank für das Interview.aj
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