IT-PRAXIS6. Februar 2025

lemon.markets – sieben BaFin-“Lizenzen” in wenigen Monaten: Sam Reis, VP of Engineering im IT‑Interview

lemon.markets bietet eine digitale Lösung für den Wertpapierhandel und setzt auf Skalierbarkeit, Automatisierung und modulare Architektur. Im Interview erklärt Sam Reis, VP of Engineering, wie das Unternehmen die BaFin-Erlaubnis beschleunigt hat, warum die Migration von Tomorrow reibungslos verlief und welche technischen Entscheidungen hinter der Plattform stehen.

Sam Reis, VP of Engineering lemon.markets
Sam Reis, VP of Engineering lemon.marketslemon.markets

Herr Reis, im Januar letzten Jahres hat lemon.markets die BaFin-Erlaubnis zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen erhalten. Wie viele Monate haben Sie zur Vorbereitung und Durchführung benötigt?

Der Weg zum Erhalt der BaFin-Erlaubnis war für uns ein sorgfältig geplanter und durchgeführter Prozess, der insgesamt mehrere Monate in Anspruch genommen hat. Die genaue Dauer eines solchen Prozesses hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie der Abstimmung mit der BaFin, der Ausarbeitung der Dokumentation und der finalen Prüfung unserer technischen und organisatorischen Strukturen.

Beim Aufbau unserer Plattform war es sehr wichtig, eine moderne technische Infrastruktur zu schaffen, die von Grund auf alle regulatorischen Anforderungen vollständig erfüllt. Dies hat die Lizenzierungsphase wesentlich erleichtert. Mit unserem frühzeitig zusammengestellten, erfahrenen Team konnten wir so den gesamten Ablauf deutlich beschleunigen, da wir genau wussten, worauf es in solchen Prozessen ankommt.

Das Ergebnis dieser intensiven Vorbereitungen sind die sieben BaFin-Lizenzen, die wir seit Anfang letzten Jahres halten.”

Sie umfassen unter anderem die Abschlussvermittlung, Anlageberatung und -vermittlung, den Eigenhandel, die Finanzportfolioverwaltung sowie die Verwahrung von Finanzinstrumenten. Diese Lizenzen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Geschäftsmodells und ermöglichen uns, FinTechs, Banken und Vermögensverwaltern eine vollständig digitale Lösung für die Abwicklung von Wertpapiergeschäften anzubieten.

Welche technischen Lösungen setzen Sie im Hintergrund ein?

Bei unserer Infrastruktur setzen wir auf eine hochverfügbare und elastisch skalierbare Architektur, die auf AWS und Kubernetes basiert.”

Dabei verfolgen wir einen modernen Infrastructure-as-Code-Ansatz mithilfe von Terraform und Argo CD. Zusätzlich kommt auf der Netzwerkebene mit Istio ein Service Mesh zum Einsatz, das in der Lage ist, hohe Sicherheitsstandards zwischen unseren Komponenten zu gewährleisten.

Sam Reis, VP of Engineering lemon.markets
Sam Reis ist VP Engineering bei lemon.markets (Website). Nach einem erfolgreichen Exit im deutschen Startup-Umfeld übernahm er Führungsrollen beim globalen Technologieunternehmen Atlassian in Sydney. 2019 kehrte er nach Deutschland zurück und leitete als Staff Engineer die Entwicklung europäischer Zahlungsmethoden bei Stripe. Seit 2023 ist er bei lemon.markets für die technologische Gesamtstrategie sowie die Leitung der Engineering-Teams der Brokerage-as-a-Service-Plattform verantwortlich. Sein Fokus liegt auf skalierbarer Infrastruktur, technischer Exzellenz und der nahtlosen Integration von regulatorischen Anforderungen in moderne Handelsplattformen. (LinkedIn)

Auf der Anwendungsebene nutzen wir hauptsächlich Python mit Frameworks wie FastAPI, Pydantic und SQLAlchemy.”

Hierdurch sind wir in der Lage, komplexe Anforderungen elegant und verständlich umzusetzen, natürlich stets mit hoher Testabdeckung. Zusammen mit unseren agilen Methoden hilft uns dies, schnell verlässliche Lösungen zu entwickeln und produktiv zu schalten, aktuell mit etwa 50 Deployments pro Woche.

Zudem setzen wir stark auf asynchrone Verarbeitung von Ereignissen; ein wichtiger Bestandteil dafür ist unsere Workflow Engine, basierend auf Temporal.”

Diese spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, unsere Hintergrundprozesse sowohl zuverlässig als auch skalierbar zu orchestrieren und dadurch den hohen Anforderungen an unser Produkt gerecht zu werden.

Kurz gesagt: Unsere Plattform kombiniert moderne Technologien mit einem flexiblen Ansatz, um komplexe Anforderungen einfach und effizient zu lösen – abgestimmt auf die Bedürfnisse unserer Partner.

Sie bieten jetzt Leistungen für FinTechs an – unter anderem Holvi und Tomorrow, samt Migration von Solaris. Wie lief die Migration technisch?

Die Migration verlief nach einem klar strukturierten Ansatz. Die Kundendaten wurden direkt über eine API-Schnittstelle in unsere Systeme übertragen. Vermögenswerte, einschließlich aller Steuerdaten, wurden über standardisierte Schnittstellen wie SWIFT und Taxbox übermittelt und verarbeitet.”

Um sicherzustellen, dass die Daten vollständig und korrekt sind, haben wir automatisierte Abgleiche zwischen den Systemen implementiert. Dadurch konnten wir die Integrität der Daten gewährleisten und mögliche Abweichungen frühzeitig erkennen und beheben.

Dieser Prozess hat uns geholfen, die Migration effizient und reibungslos abzuwickeln, ohne Kompromisse bei der Datenqualität einzugehen.

Die Migration sei, so heißt es, in nur wenigen Wochen durchgeführt worden. Warum ging das so schnell? Welche Voraussetzungen waren dafür notwendig?

Unsere erste Migration in so kurzer Zeit abzuschließen, war ein großer Erfolg. Entscheidend war hier eine Kombination aus verschiedenen Faktoren.

Zum einen haben wir uns sehr gründlich vorbereitet. Dank unserer Sandbox-Umgebung konnten wir die Integrationen vor der eigentlichen Live-Schaltung ausgiebig testen. Das hat uns nicht nur viel Zeit gespart, sondern auch dafür gesorgt, dass wir schnell in die Entwicklung einsteigen konnten.”

Ein weiterer Punkt war unsere Entscheidung, die Migration in Stufen durchzuführen. Wir haben mit einer Friends-&-Family-Phase begonnen, bevor weitere Tranchen migriert wurden. Das hat uns ermöglicht, schnelles Feedback einzuholen und sofort Verbesserungen umzusetzen – was den gesamten Prozess effizienter und sicherer gemacht hat.

Dann spielt auch unser Teamansatz eine große Rolle. Wir arbeiten mit cross-funktionalen Teams, das heißt, unsere Operations-Funktion ist direkt in die fachlichen Teams eingebettet und arbeitet dort unmittelbar mit Entwickler*innen und Produktmanager*innen zusammen. Das hilft uns, Probleme schnell zu erkennen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Die Wege waren dadurch extrem kurz und das hat vieles beschleunigt.

Nicht zuletzt war die enge Zusammenarbeit mit Tomorrow ein entscheidender Faktor. Unsere technischen Teams haben auf einer ähnlichen Flughöhe agiert, was die Kommunikation und das Verständnis füreinander enorm erleichtert hat.”

Das hat dazu beigetragen, dass wir alle Anforderungen direkt und präzise umsetzen konnten.

Gab es unvorhergesehene Herausforderungen bei der Migration?

Bei einer Migration gibt es immer unerwartete Herausforderungen – das gehört einfach dazu. Deshalb war es für uns entscheidend, Systeme zu schaffen, mit denen wir solche Probleme frühzeitig erkennen und schnell lösen konnten.

Ein zentraler Punkt waren unsere automatisierten Datenabgleiche, die uns geholfen haben, Abweichungen sofort zu identifizieren.”

Generell setzen wir in unserer Softwarearchitektur stark auf Transparenz und Kontrollsysteme – mit klaren Mechanismen zur Fehlererkennung und Alarmierung. Diese Werkzeuge geben jederzeit einen genauen Überblick über den Status und ermöglichen ein schnelles Eingreifen, falls etwas nicht wie geplant läuft.

Dieser Ansatz hat uns bei diesem Migrationsprojekt enorm unterstützt und war sicherlich ein entscheidender Faktor für den erfolgreichen Verlauf. Es zeigt sich immer wieder, wie wichtig ein stabiles technisches Fundament und gut abgestimmte Prozesse sind, um auf unvorhergesehene Situationen schnell reagieren zu können.

Hat Tomorrow schon jetzt Produktverbesserungen für seine Kunden? Welche genau?

Grundsätzlich kann Tomorrow dank unserer Infrastruktur nun die gesamte Investment-Wertschöpfungskette aus einer Hand anbieten. Das vereinfacht nicht nur das bestehende Investment-Setup erheblich, sondern steigert auch dessen Effizienz.

Für die bestehenden Kund*innen von Tomorrow stand vor allem der reibungslose Fortbestand des Investment-Angebots im Mittelpunkt, der durch die geplante Abschaltung des Brokerage-Services von Solaris im Raum stand. Daher lag unser Fokus zunächst auf der Sicherstellung der bestehenden Depots, einem funktionierenden Asset-Transfer sowie der Möglichkeit, Wertpapiere weiterhin zu verkaufen.

Parallel dazu konnten wir zahlreiche Prozesse rund um das Investment-Produkt optimieren und vollständig digitalisieren. So entfällt beispielsweise das zeitaufwändige Hin und Her mit PDF-Formularen, wodurch sich die gesamte Nutzer*innenerfahrung deutlich vereinfacht.

Aktuell arbeiten wir aktiv daran, dass Tomorrow-Kund*innen wieder Depots eröffnen und über die Tomorrow-App investieren können. Ein wesentlicher Baustein dabei sind die finalen rechtlichen Voraussetzungen für das Cash Settlement. Im Laufe des Jahres wird der Tomorrow Fund dann wieder vollständig handelbar sein.”

Langfristig bildet diese Partnerschaft die Grundlage für die Entwicklung neuer Features und Produkte. So kann Tomorrow sein Angebot noch gezielter auf die Bedürfnisse der Kund*innen ausrichten und die Investitionsmöglichkeiten weiter ausbauen. Insgesamt schafft die Zusammenarbeit nicht nur direkten Mehrwert, sondern bietet auch großes Potenzial für die langfristige Weiterentwicklung des Angebots.

KYC ist ja immer ein heikles Thema. Wie haben Sie das Onboarding- und den KYC-Prozess gelöst?

KYC ist ein wichtiges Thema, weshalb wir uns speziell für die Migration ein klares Konzept überlegt haben. Kunden empfinden KYC-Prozesse oft als aufwändig und sie stellen eine erhebliche Barriere in der Nutzererfahrung dar.

Um dies so weit wie möglich zu vermeiden, haben wir eng mit Tomorrow’s Bankpartner Solaris zusammengearbeitet.”

Gemeinsam haben wir einen Ansatz entwickelt, der es ermöglicht, bereits  vorhandene Daten mit der Zustimmung der jeweiligen Kund*innen wiederzuverwenden. Dadurch konnten wir diesen in den meisten Fällen ein erneutes Durchlaufen der Video-Identifizierung ersparen.

Die Übertragung und Überprüfung der dafür benötigten Daten lief vollautomatisiert über unsere API, sodass die Depoteröffnung und die Zustimmung zum Wertpapierübertrag in der Regel mit nur wenigen Klicks und innerhalb weniger Sekunden erfolgen konnte.”

Für Kund*innen, bei denen dies nicht möglich war, wurde der KYC-Prozess in enger Kooperation mit Solaris erneut durchgeführt. So standen uns bei lemon.markets letztendlich alle notwendigen Daten für ein GwG-konformes Onboarding zur Verfügung.

Insgesamt hat dieser Ansatz das Kundenerlebnis erheblich verbessert und den gesamten Ablauf effizienter und skalierbarer gemacht – erkennbar an der hohen Rate an Kund*innen, die die Migration erfolgreich durchlaufen haben.

In dem Zusammenhang haben Sie Allfunds eingeführt. Was ist das und welche Rolle spielt Allfunds?

Tomorrow bietet mit dem „Tomorrow Fund“ einen nachhaltigen Investmentfonds an, der sich am Pariser Abkommen orientiert. Dieses Fondsangebot führt Tomorrow gemeinsam mit lemon.markets fort. Dafür haben wir unser Produktangebot erweitert und eine nahtlose Integration von Allfunds, einem der weltweit größten Fondsmarktplätze, entwickelt.

Allfunds ist eine der führenden B2B-WealthTech-Plattformen in der Fondsbranche und bietet große Flexibilität sowie umfassende Expertise bei der Distribution von Investmentprodukten. Durch die Integration von Allfunds in unsere Wertschöpfungskette können die Kund*innen von Tomorrow direkt über ihre App Fonds handeln. Wir übernehmen dabei die gesamte Order-Abwicklung im Hintergrund. Sobald eine Order über die Schnittstelle von Tomorrow aufgegeben wird, leiten wir diese an Allfunds weiter, wo sie verarbeitet und die Bestätigung der Ausführung zurückgespielt wird.

Technisch haben wir Allfunds direkt in unser Order-Management und die Abwicklungsprozesse eingebunden. Das Besondere daran: Unsere Partner arbeiten weiterhin mit nur einer einzigen API, während wir im Hintergrund das Routing zwischen Handelsplätzen und Verwahrstellen wie Tradegate, BNP Paribas und Allfunds übernehmen.

Dieses Setup bietet zahlreiche Möglichkeiten. Eine ähnliche Integration nutzen wir bereits für unseren Partner Holvi, um dessen Geschäftskund*innen Zugang zu Geldmarktfonds zu bieten. Damit erweitern wir nicht nur das Produktportfolio unserer Partner, sondern auch die Investitionsmöglichkeiten ihrer Kund*innen.”

Wir haben also mit Allfunds eine Lösung geschaffen, die nicht nur den aktuellen Anforderungen von Tomorrow entspricht, sondern auch viel Potenzial für neue Produkte und Partnerschaften bietet.

Wie kooperativ war Solaris bei der Migration?

Die Zusammenarbeit verlief reibungslos. Insbesondere die Flexibilität von Solaris und die Möglichkeit, die Kundendaten per API zu übertragen, hat entscheidend zur erfolgreichen und schnellen Migration beigetragen.”

Das spricht nicht nur für die technische Infrastruktur, sondern auch für das partnerschaftliche Mindset aller Beteiligten. Solch eine Zusammenarbeit zeigt, wie wichtig ein kooperativer Ansatz bei Projekten dieser Art ist, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten.

Es wurden ja bereits neue Investmentprodukte in Aussicht gestellt. Was wird kommen?

Die Entscheidung und Kommunikation über neue Produkte liegt natürlich bei Tomorrow.

Wie bereits erwähnt, eröffnet die Partnerschaft viele Möglichkeiten, um in Zukunft neue Features und Produkte zu entwickeln, die individuell auf die Bedürfnisse der Kund*innen abgestimmt sind. Unsere modulare Infrastruktur spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie ermöglicht einen effizienten Zugang zu einem offenen Ökosystem an Anlageprodukten und bildet die Grundlage, um flexibel und zielgerichtet auf Kundenwünsche einzugehen.

Dies schafft die Basis für eine kontinuierliche Erweiterung des Angebots – beispielsweise durch Sparpläne oder den Zugang zu weiteren Assetklassen wie ETFs.

Herr Reis, vielen Dank für das Interview.aj

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert