IT-Strategie: Die Versicherer rüsten sich digital
Auf die Versicherungswirtschaft rollt eine Digitalisierungswelle zu: Laut einer Umfrage für den “Branchenkompass Insurance 2015” von Sopra Steria Consulting will die Assekuranz bis 2018 fast ein Drittel ihrer Budgets in die Digitalisierung investieren. Rund vier von fünf Unternehmen schätzen die Optimierung ihrer IT derzeit als drängende Herausforderung ein. Wichtigste Treiber: ein massiv gewandeltes Wettbewerbsumfeld, veränderte Kundenerwartungen sowie der stetig wachsende Compliance-Druck.
Henning Plagemann und Martin Preuss,
beide Manager Vertriebssteuerung bei Sopra Steria Consulting
IT-Altlasten contra Innovation
Als Bremse erweisen sich hauptsächlich heterogene IT-Landschaften, die sich oft auf mehrere Standorte verteilen und von verschiedenen Teams betreut werden. Manche Legacy-Systeme großer Versicherungen stammen noch aus den 1980er Jahren – ihre Wartung verschlingt den Löwenanteil der Ressourcen, sodass für echte Innovationen nur wenig übrigbleibt. Noch schlimmer aber wirkt die extreme Inflexibilität solcher „historisch gewachsenen“ Umgebungen, weil sie die Reaktion auf neue Marktanforderungen massiv behindern. Tatsächlich benötigt manche große Versicherung bis zu zwei Jahre, um ein neues Produkt zu lancieren.
Dass es auch anders geht, beweisen etliche kleine Gesellschaften, deren Reaktionsfähigkeit weder von Altsystemen noch von bürokratischen Entscheidungshierarchien ausgebremst wird. Dieser Zeitvorsprung wiederum erweist sich immer mehr als Wettbewerbsvorteil, denn Vermittler fragen heute nicht mehr, welche Produkte zu welchen Provisionen zu haben sind, sondern wann und wie schnell sie einen Service in ihr Portfolio integrieren können. Zum Beispiel, wenn es um die Gewerbeversicherung für Mittelständler geht, die für den Onlineverkauf in standardisierter Form über ein Vergleichs-Portal angeboten werden soll.
Prozessstandards & Trusted German Insurance Cloud
Versicherungen benötigen folglich eine IT-Infrastruktur, die in der Lage ist, standardisierte Services in kürzester Zeit mit minimalem Aufwand und offener Anbindungsmöglichkeit für externe Vermittlersysteme bereitzustellen. Dieser Herausforderung stellt sich auch der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV in einem Gemeinschaftsvorhaben mit der BiPRO, das auf branchenweit einheitliche Prozessstandards zielt. Außerdem ermöglicht schon bald die Trusted German Insurance Cloud (TGIC) des GDV via Internet einen sicheren Austausch von Daten und Prozessen zwischen Maklern und Versicherungen.
Fünf vor zwölf: Keine Zukunft ohne SOA
Voraussetzung bei den Unternehmen ist dafür allerdings der Umbau der IT-Landschaft zu einer serviceorientierten Architektur (SOA). Der entscheidende Unterschied zum bisherigen Flickenteppich aus monolithischen und siloartigen Systemen liegt im modularen Aufbau von SOA: Die Elemente von SOA können als unabhängige Servicebausteine gesehen werden, wobei Datenstrukturen und Verarbeitungsprozesse durchgängig auf den Regeln der Objektorientierung basieren. Jedes Datenelement – egal, ob Datenfeld, Datensatz oder komplette Tabelle – kommuniziert über autarke Webservices mit anderen Elementen, um beispielsweise verschiedene Datenfelder miteinander abzugleichen oder einen Datensatz mit Metadaten anzureichern. Webservices repräsentieren gleichsam eine dynamische Prozesssicht, die bei SOA die alte Sichtweise auf bestehende Datensilos wie Kunden- versus Produktdaten ablöst.
Von FinTechs lernen: Weichen auf Agilität gestellt
SOA liefert dann auch unternehmensübergreifend die richtige Perspektive: Ganz oben auf Geschäftsprozessebene stehen Vermittlern beispielsweise aggregierte Kundendatensätze samt Kontakthistorie mit genau jenem Ausschnitt aus dem Produkt- und Datenspektrum zur Verfügung, der für die betreffenden Kunden relevant ist. Die dafür zuständigen SOA-Services rufen Subservices auf, die sich aus Datenfeldern sowohl der Produkt- und Kundensysteme der Versicherer und dem Verwaltungssystem des Maklers zusammensetzen.
Der entscheidende Vorteil von SOA ergibt sich aus der Agilität, mit der sich Geschäftsprozesse aus bestehenden Servicebausteinen schnell und einfach konfigurieren lassen. Damit können große Versicherungen ihre Produkt- und Serviceentwicklung komplett reformieren: Dank SOA sind sie nicht mehr auf ein streng sequenzielles Vorgehen nach dem Wasserfallmodell angewiesen, sondern können auf agile Methoden umschwenken mit schneller Prototypverfügbarkeit und beliebiger Rücksprungmöglichkeit in frühere Entwicklungsphasen. Genauso, wie man es von vielen Startups aus der FinTech-Szene kennt. Aus bislang 24 Monaten bis zur Produktmarktreife werden dann möglicherweise 24 Tage – oder weniger. Allerdings braucht die agile Produktentwicklung außer SOA noch eine veränderte Unternehmenskultur mit einem Digital Mind-Set. Auch hierbei können etablierte Firmen durchaus von jungen Startups lernen.
Digitalisierung & Compliance
Eine serviceorientierte IT-Umgebung hat für die Assekuranz aber auch mit Blick auf andere Herausforderungen eine geradezu existenzielle Bedeutung: SOA beschleunigt die Prozessdigitalisierung, was ihrerseits die Compliance-Fähigkeit entscheidend verbessert. Ohne digital transformierte Prozesse sind in der Kundenberatung die haftungsrechtlichen Anforderungen des Gesetzgebers schon heute praktisch nicht mehr zu erfüllen. Mit dem Inkrafttreten von Solvency II und der Verabschiedung der EU-Richtlinie IDD (Insurance Distribution Directive) durch das EU-Parlament zu Beginn dieses Jahres hat der Compliance-Druck vermutlich nur einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Laut aktuellem Branchenkompass hat das Thema Compliance für 86 Prozent aller Versicherungen und 77 Prozent aller Makler derzeit höchste Priorität. Gut ein Drittel aller Unternehmen erwartet in diesem Kontext bereits kurzfristig Auswirkungen auf den eigenen Vertrieb. Mittel- bis langfristig stellen sich noch einmal fast ebenso viele auf Compliance-bedingte Vertriebsanpassungen ein. Überdies gehen mehr als neun von zehn befragten Unternehmen davon aus, dass bei offenen und komplex vernetzten IT-Infrastrukturen das Thema Cyber-Security in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird.
Vor diesem Hintergrund stellt das TGIC-Projekt, das derzeit seine Testphase durchläuft, die Weichen für eine datenschutzkonforme Vernetzung von Vertriebsprozessen über Unternehmensgrenzen hinweg: Ab Mitte 2016 regelt die BSI-zertifizierte Branchen-Cloud unter der Regie des GDV die prozessuale Integration zwischen Versicherungen, Maklern und prinzipiell auch anderen Partnern wie etwa FinTech-Firmen. Die standardisierte Kommunikation über die gemeinsame Versicherungs-Cloud des GDV bietet für Makler enorme Vorzüge, denn typischerweise schließen Kunden unterschiedliche Verträge mit mehreren Versicherern ab. Die Cloud senkt hierbei den administrativen Aufwand und ermöglicht zugleich einen besseren Kundenservice. Die Versicherungen haben die SOA-Herausforderungen erkannt und sind jetzt dabei, entsprechende Vertrags- und Produktinformationen per Webservice sukzessive zur Verfügung zu stellen. Wie die Prioritätenliste bei der Umsetzung der Services nach BiPRO-Norm aus Sicht der Consumer aussieht, ist gerade Gegenstand von Diskussionen innerhalb der BiPRO-Community und Bestandteil der Branchendigitalisierung.
Fazit: Der Gewittersturm zieht nicht vorüber!
Lange sah es so aus, als hoffe die Versicherungswirtschaft, dass der digitale Wandel wie ein Gewittersturm an ihr vorüberzieht. Inzwischen aber hat sich bei der übergroßen Mehrheit in der Branche die Einsicht durchgesetzt, dass nur ein digital transformiertes Versicherungsunternehmen auf lange Sicht wettbewerbsfähig ist.aj
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