Digital Maturity Assessment: Kann man digitale Reife bei Versicherungen beziffern?
Das Thema Digitalisierung haben sich alle Banken und Versicherungen auf die Fahnen geschrieben. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Gesellschaften das in sehr unterschiedlicher Qualität hinbekommen. Digital Maturity Assessment heißt ein beliebtes Schlagwort, mit dem Beratungsunternehmen konkret beziffern wollen, wie weit eine Versicherung hier ist. Wir haben Martin Rothhaar, Managing Partner bei Elaboratum, gesprochen – darüber, wie valide man so etwas überhaupt messen kann und woran man eine innovative Versicherung im Hinblick auf die Digitalisierung erkennt. Darüber hinaus ordnet Rothhaar die Versicherungswirtschaft im Branchenvergleich ein und erklärt, mit welchen spezifischen Herausforderungen die Versicherungsbranche konfrontiert ist und wie das ihre Innovationsfähigkeit, Kundenerfahrung, Datennutzung und Geschwindigkeit bei der Einführung neuer Angebote beeinträchtigen kann.
Herr Rothhaar, Digitalisierung ist ein Thema, das in nahezu sämtlichen Branchen eines der wichtigsten Themen seit Jahren ist, wenn es um die Weiterentwicklung von Unternehmen geht. Wie erkennt eine Versicherung denn generell, ob sie die Grundlagen für die digitale Transformation erfüllt?
Martin Rothhaar: Die digitale Transformation ist heutzutage unumgänglich – insbesondere für dezentral organisierte Unternehmen. Eine zentrale Herausforderung dabei ist, einen Überblick über die Digitalisierungsinitiativen der verschiedenen operativen Einheiten zu behalten und gleichzeitig den optimalen Pfad zur digitalen Reife zu definieren. Ein effektives Instrument zur Bewältigung dieser Aufgabe ist das Digital Maturity Assessment, also ein Bewertungsmodell speziell für Versicherungen und ihre operativen Einheiten. Das dient nicht nur zur Ermittlung des aktuellen digitalen Reifegrads, sondern auch für die Prognose zukünftiger Schritte innerhalb der Digitalisierungsstrategie. Das daraus resultierende Maturitätslevel und der Effekt der Maßnahmen auf zentrale Leistungskennzahlen wie Umsatz, Beitragseinnahmen oder das durch digitale Kanäle initiierte Geschäft sind entscheidend für die strategische Ausrichtung der digitalen Agenda.
Was genau sind Kriterien und Stellschrauben für Digital Maturity? Sie sprechen da bei Ihrem Evaluationsmodell von 90 Kriterien, worauf schauen Sie da?
Martin Rothhaar: Unser Evaluationsmodell zur Bestimmung der digitalen Reife basiert auf einer Methode, die eine präzise Quantifizierung des digitalen Reifegrads ermöglicht. Das ist vor allem für Versicherungen und andere dezentral organisierte Unternehmen wichtig, da das Digital Maturity Assessment eine einheitliche Bewertung ihrer Einzelorganisationen erlaubt und die Vergleichbarkeit sowohl mit anderen Branchen als auch im Benchmark gegenüber anderen Versicherungen erleichtert.
Die Kriterien unseres Modells sind mit rund 90 Punkten dabei tatsächlich sehr detailliert und decken insbesondere Aspekte des digitalen Reifegrads in den Bereichen Marketing, Vertrieb und Service ab. Basis für das Assessment bildet die Selbsteinschätzung der operativen Einheiten hinsichtlich ihrer digitalen Reife in Kategorien wie User Experience (UX), Datenmanagement, Technologie-Stack und Organisation. Es geht da um 88 qualitative Fragen gestellt, die mit 22 KPIs verknüpft sind und auf einer Skala von 0 bis 10 bewertet werden. Die digitale Reife ergibt sich schließlich aus den Ergebnissen der vier Hauptdimensionen, die sich wiederum aus den Ergebnissen der Unterdimensionen ableiten.
Das Modell zur Steuerung der digitalen Transformation fokussiert sich auf die Einschätzung aktueller digitaler Kompetenzen, das Aufspüren von Optimierungsbereichen, das kontinuierliche Verfolgen des digitalen Fortschritts, die Priorisierung von Investitionen in die Digitalisierung, das Treffen strategischer Entscheidungen und die Abstimmung digitaler Initiativen aufeinander. Diese Elemente sind ausschlaggebend, um die digitale Transformation effektiv zu steuern und zu optimieren.
All das ist ja prinzipiell eher ein qualitatives Thema. Sie sagen aber, dass Sie das quantifizieren können. Wie geht das und wie aussagekräftig ist so ein Maturity-Wert wirklich?
Martin Rothhaar: Die Quantifizierung eines prinzipiell qualitativen Themas wie der digitalen Reife ist durchaus möglich und liefert aussagekräftige Werte, die für die strategische Planung und Optimierung von Digitalisierungsprozessen entscheidend sind. Angenommen, eine Organisation erreicht auf einer Skala der digitalen Entwicklung 800 Punkte, dann können wir gezielt Hebel wie die Nutzung eigener Daten (First Party Data Intelligence) oder Strategien zur Kundengewinnung im frühen Kaufprozess (Upper Funnel Strategy) als Ansatzpunkte für Verbesserungen identifizieren.
Durch die Definition konkreter Optimierungsmaßnahmen für diese Hebel und deren konsequente Umsetzung lässt sich eine Prognose für einen verbesserten Reifegrad um eine bestimmte Punktzahl erstellen. “
Auf Basis der identifizierten Ansätze zur Verbesserung der digitalen Performance lässt sich vieles schlussfolgern, etwa ein Anstieg des Paid Media Traffics und der Conversion Rate. Ausgehend von diesen prognostizierten Zahlen kann man neue KPIs wie DIBnew, also digital initiiertes Neugeschäft, vorausberechnen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Anpassung der technologischen Infrastruktur, um den digitalen Reifegrad zu erhöhen. Dies umfasst die Implementierung moderner IT-Systeme, die Nutzung von Cloud-Technologien und die Einführung fortschrittlicher Analysetools. Eine solide technologische Basis ermöglicht es Versicherungsunternehmen, agiler zu sein, schneller auf Marktveränderungen zu reagieren und innovative digitale Dienstleistungen anzubieten. Diese quantitativen Werte sind somit ein wesentlicher Bestandteil für die Messung und Steuerung der digitalen Transformation.
Gehen wir doch mal in die Praxis: Welches sind die „digitalsten“ Versicherungen in Deutschland und der DACH-Region – und warum?
Martin Rothhaar: Die „digitalsten” oder besser gesagt „innovativsten“ Versicherungen sind aus unserer Sicht jene, die herausragende Leistungen in Personalisierung, Kundenzentrierung, Innovation und der Verknüpfung von Daten und Technologie erbringen. In unserer Wahrnehmung sind da vor allem einige Schweizer Versicherungen ziemlich gut aufgestellt und weiter als die Kollegen – allen voran zum Beispiel die Helvetia und ihre Tochter Smile. In Bezug auf die digitale Kundeninteraktion und die Bereitstellung von personalisierten, innovativen Dienstleistungen über digitale Plattformen kann man sich bei beiden Unternehmen einiges abschauen.
Die HUK und insbesondere die HUK24 haben sich andererseits durch ihre frühzeitige Fokussierung auf Direktversicherungen einen Vorsprung erarbeitet. Allerdings haben sie jetzt in einigen Bereichen Schwierigkeiten, mit der schnellen Entwicklung der digitalen Welt und mit den dadurch veränderten Kundenerwartungen Schritt zu halten. Auch der Platzhirsch Allianz in Deutschland macht schon vieles richtig – wenngleich noch erhebliches Potenzial ungenutzt bleibt, vor allem in der intelligenten und engen Verzahnung von digitalen Services und persönlicher Beratung.
Digitalisierung kostet Geld, viel Geld. Sie erklären, dass sich diese Aufwendungen positiv auf die KPIs des Unternehmens bemerkbar machen. Wie argumentieren Sie da und wie überzeugen Sie konservative, nicht IT-affine Vorstände?
Martin Rothhaar: Die Investition in die Digitalisierung kann auf den ersten Blick als kostspielig erscheinen. Doch durch das Digital Maturity Assessment erhalten Versicherer ein klares Bild davon, wo das Unternehmen im digitalen Reifeprozess steht. Dadurch kann das Unternehmen Maßnahmen ergreifen, die mittelfristig helfen, Kosten zu sparen. Hier kann man gezielt Investitionen vorschlagen, um die IT-Ressourcen optimal zu nutzen und sicherzustellen, dass Investitionen tatsächlich zur Steigerung der Effizienz und zur Verbesserung der Kundenerfahrung beitragen.
Ein besonders aussagekräftiger Indikator für den Erfolg der digitalen Maßnahmen ist der Digitally Initiated Business-KPI. Er misst den Anteil des Geschäfts, der durch digitale Kanäle initiiert oder sogar komplett online abgeschlossen wird. Dieser KPI gibt nicht nur Aufschluss darüber, wie digital das Kundengeschäft ist, sondern zeigt auch, inwieweit die digitale Integration in den operativen Einheiten fortgeschritten ist.“
Durch das Digital Maturity Assessment werden zudem die spezifischen Aspekte beleuchtet, die die digitalen KPIs wie Leads, Conversion Rates, Direktverkäufe oder organischen Traffic negativ beeinflussen könnten. Diese Erkenntnisse ermöglichen es den Unternehmen, präzise Verbesserungen vorzunehmen, die einen direkten und positiven Effekt auf die Unternehmensleistung haben. Und um konservative Vorstände zu überzeugen, ist es essenziell, den Zusammenhang zwischen digitaler Reife und geschäftlichem Erfolg deutlich zu machen. Dazu bedarf es konkreter Daten und einer strategischen Ausrichtung, die zeigt, wie digitale Initiativen direkt zur Steigerung der KPIs beitragen.
Die Fähigkeit, sich zu digitalisieren, ist das eine, der Weg dorthin kann bekanntermaßen über ganz viele Wege erfolgen. Wie können Versicherungen hier priorisieren?
Martin Rothhaar: Digital Maturity Assessment ist weit mehr als nur eine Momentaufnahme des aktuellen digitalen Zustands des Unternehmens. Es ist ein umfassendes Werkzeug, das Versicherungen nicht nur bei der Identifizierung der Schlüsselfaktoren langfristig unterstützt, sondern ihnen auch ermöglicht, ihre Digitalstrategie kontinuierlich anzupassen. Es geht dabei um die Verfolgung eigener Fortschritte über die Zeit.
Durch den Vergleich mit zurückliegenden Bewertungen können Versicherungen eindeutig sehen, welche Bereiche sich verbessert haben und wo noch Handlungsbedarf besteht. Die Erkenntnisse dienen als Richtlinie für die gezielte Priorisierung von Maßnahmen und Investitionen. Dadurch werden Versicherungen in die Lage versetzt, ihre Ressourcen effizient und wirkungsvoll einzusetzen.“
Martin Rothhaar ist seit 2012 Managing Partner bei der Digitalberatung Elaboratum. Der studierte Wirtschaftsinformatiker ist langjähriger Digitalisierungsexperte und verfügt über Expertise in Marketing und Vertrieb. Er war davor in leitenden Postionen im Digitalgeschäft für die Allianz, für O2 und Weltbild tätig.
Des Weiteren schafft das Digital Maturity Assessment eine klare Transparenz über den Business Impact der getätigten Investitionen. Indem es aufzeigt, wie digitale Initiativen die Unternehmensleistung beeinflussen, ermöglicht es eine zahlenbasierte Bewertung der Effektivität von Digitalisierungsmaßnahmen. Das hilft Unternehmen, eine zahlenbasierte, zielgerichtete und gleichzeitig flexibel adaptierbare Digitalisierungs-Roadmap zu entwickeln und ihre Digitalisierungsmaßnahmen so zu priorisieren und auszurichten, dass sie den größtmöglichen Wert für das Unternehmen schaffen.
Sie kennen die Branche gut – was sind Ihrer Erfahrung nach dem Punkte, die Ihnen als Schwäche in nahezu allen Unternehmen begegnen im Vergleich zu anderen Branchen?
Martin Rothhaar: In meiner Auseinandersetzung mit der Versicherungsbranche, insbesondere im Vergleich zu anderen Sektoren, kristallisieren sich tatsächlich einige wiederkehrende Schwächen heraus, die nahezu branchenübergreifend anzutreffen sind. Zum einen fällt auf, dass die Versicherungsbranche oft eine gewisse Trägheit in Bezug auf Innovation und digitale Transformation zeigt.
Während andere Branchen wie der Technologie- oder Finanzsektor schnell auf neue Trends reagieren, neigen Versicherungsunternehmen dazu, an traditionellen Geschäftsmodellen und -prozessen festzuhalten. Diese Zögerlichkeit kann die Anpassungsfähigkeit an sich schnell ändernde Marktbedingungen und Kundenbedürfnisse beeinträchtigen.“
Oftmals ist auch die Kundenerfahrung nicht so zufriedenstellend wie in anderen Sektoren. Kunden erwarten heute eine schnelle, einfache und transparente Interaktion mit Unternehmen, doch Versicherer kämpfen dagegen häufig mit veralteten Systemen und komplexen Prozessen, die eine reibungslose Kundenerfahrung behindern.
Drittens stellen die Verarbeitung und Nutzung von Daten eine Herausforderung dar. Obwohl Versicherungsunternehmen Zugang zu einer Fülle von Daten haben, mangelt es oft an der Fähigkeit, diese effektiv zu analysieren und für personalisierte Angebote oder zur Risikominimierung zu nutzen. Im Vergleich dazu setzen Unternehmen in datengetriebenen Branchen, wie dem E-Commerce, fortschrittliche Analysetools und künstliche Intelligenz ein, um tiefe Einblicke in das Kundenverhalten zu gewinnen und ihre Dienstleistungen entsprechend anzupassen. Und last, not least ist die Regulierungsdichte in der Versicherungsbranche eine Herausforderung. Während Regulierung notwendig ist, um Verbraucher zu schützen, kann sie auch Innovation bremsen und die Einführung neuer Produkte oder Dienstleistungen verzögern. Andere Branchen, die weniger streng reguliert sind, können oft schneller agieren und neue Lösungen schneller auf den Markt bringen.
Herr Rothhaar, herzlichen Dank für dieses Gespräch. tw
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