Agilität – Ein großes Missverständnis?
Agilität ist das Business-Modewort. Es ist der neue Heilsbringer in einer VUKA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität)-Welt. Doch ist Agilität wirklich neu? Die Ansätze sind ganz unterschiedlich. Wikipedia sagt, es wäre eine Fähigkeit des Managements, für Haufe ist es die höchste Form der Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens und für das Wirtschaftslexikon onpulson ist es die Fähigkeit einer Organisation, flexibel zu agieren. Michael Mayer (Dilligentia) versucht eine zielführende Definition.
von Michael Mayer, Dilligentia
Was ist Agilität wirklich? Agilität ist die natürliche Fähigkeit eines jeden Menschen, sich flexibel an geänderte Umweltbedingungen anzupassen, um dadurch sein Überleben zu sichern. Wir erleben es jeden Tag, bei der Geburt eines Kindes, in der Schule, in der beruflichen Entwicklung, bei Krankheit, im Sport – überall. Agilität geht einher mit dem Vertrauen, zukünftige Herausforderungen, Ziele und Probleme mit den eigenen Ressourcen bewältigen zu können.Agile Unternehmen fördern diese Fähigkeit des Menschen. So gesehen ist Agilität so alt wie wir Menschen.”
Aber was ist mit der “Agilität’ passiert?
Im Zuge der Entwicklung der Wissenschaften und der damit zusammenhängenden Industriealisierung kamen breite Bevölkerungsschichten zu mehr Geld, als sie zum Leben brauchten. Gleichzeitig verbesserte sich sukzessive das Gesundheitswesen, die Bildung und die Arbeitsbedingungen, so dass immer mehr Menschen immer älter wurden. Kleidung, Auto, Radio, Fernsehen, Telefon, Computer, Handy, Smartphone, Alexa… all diese millionenfachen Konsumwünsche mussten befriedigt werden. Und das gelang am effizientesten und kostengünstigsten durch Fließbandarbeit und Massenproduktion. Der Mensch spielte in diesen Prozessketten als Produktionsfaktor die Hauptrolle. Aufgrund der enormen Nachfrage war das Geschäft planbar und die Gewinne sprudelten.
Die ideale Organisationsform dafür war die Hierarchie. Klare Rangordnungen, Vorgesetzte, Gehorsamspflicht, klar definierte Bereiche und Aufgaben, möglichst schlanke Prozesse, geringe Fehlertoleranz, Planung-Zielfestlegung-Kontrolle als zentrales Steuerungsinstrument … ermöglichten eine effiziente und millionenfache Produktion von Konsumgütern. Hierzu braucht es Menschen, die genau so arbeiten, wie es ihnen vorgeschrieben wird.
Use it or loose it
Unser Gehirn ist lebenslang form- und veränderbar. Allerdings bilden sich Gehirnzellen, die nicht gebraucht werden, zurück, sterben ab oder werden für andere Zwecke verwendet. Gefragt waren in dem zuvor geschilderten Umfeld Menschen, die im positiven Sinne „Dienst nach Vorschrift“ machten, die ihr abgegrenztes, klar definiertes Aufgabenfeld in einer hohen Qualität erledigten. Nicht weniger aber auch nicht mehr.
Und so hat man den Menschen ihre natürliche Fähigkeit zur Agilität im Kontext der Arbeit in den letzten 150 Jahren abtrainiert – ihre Gehirnzellen in diesem Bereich degenerieren lassen. In vielen Unternehmen und manchen Branchen ist dies bis heute so.”
Agilität findet, wenn überhaupt, nur noch in der Freizeit oder wieder in abgegrenzten Bereichen / Abteilungen statt.
Was ändert sich gerade so schnell?
Der Mensch als zentraler Produktionsfaktor in Prozessketten verliert rapide an Bedeutung.”
Der Mensch als zentraler Produktionsfaktor in Prozessketten verliert rapide an Bedeutung.”
Siemens arbeitet gerade an einem Projekt mit Kuka zusammen. Herauskommen soll dabei die weltweit erste komplett automatisierte Produktion von Elektroautos. Tausende von Autos am Tag – Mitarbeiter in der Fabrik? Einer. Oder betrachten Sie sich die Speedfactory von Adidas in Ansbach (wohlgemerkt nicht in Bangladesch oder Vietnam). Adidas stellt dort per 3D-Druck Sportschuhe her, deren Sohlen individuell auf den Fußabdruck des Nutzers abgestimmt sind. Digitalisierung, Robotik, 3D-Druck, intelligente Vernetzung … machen den Menschen in der Produktion sukzessive überflüssig.
Weiterhin ist das Konsumwachstum in der Überflussgesellschaft der Industriestaaten begrenzt. (Ich brauche kein 5. Paar Sportschuhe – obwohl, wenn ein Schrittzähler, Fußduftabsorber, Insektenzertretungsschoner, O2-Inkubator, Akupunkturpunktmassierer und Headup-Display integriert wären, vielleicht schon).
Dies hat vor allem zwei Effekte:
1. Produktlebenszyklen verkürzen sich, da nur innovative oder individualisierte Produkte sich noch gut verkaufen lassen (siehe Adidas mit dem 3D-Druck). 2. Zukünftig wird nicht mehr die Unternehmensgröße oder die Marktstellung über den Erfolg entscheiden, sondern die Fähigkeit, sich schnell und flexibel an geänderte Marktbedingungen anzupassen.Was bedeutet das für IT-Mitarbeiter?
Man braucht künftig agile (Wissens-)Mitarbeiter. Also werden Rahmenbedingungen geschaffen, in denen sich die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Agilität wieder entfalten kann. Rahmenbedingungen, in denen die Menschen wieder mehr Freiheit haben, stärker auf Ihre eigenen Ressourcen zurückgreifen können und daran glauben, Herausforderungen wieder aus eigener Kraft bewältigen zu können.
Jetzt gab es aber immer schon Unternehmen, deren Lenker seit Gründung für solche Rahmenbedingungen gesorgt haben. Nehmen Sie z.B. Gore (1958), Patagonia (1973), Tegut (1947), GLS-Bank (1974), Wala Heilmittel GmbH (1935) oder viele erfolgreich geführte Familienunternehmen. Gemeinsam ist allen Unternehmen ein klarer Unternehmenssinn, für den es sich zu arbeiten lohnt und eine wertschätzende Unternehmensführung.
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird
So gesehen gab es schon immer Agilität. Unternehmen, die ihren Angestellten die Möglichkeit bieten, sich mit Ihrer Arbeit zu identifizieren und ihr Potenzial weiterzuentwickeln. Unternehmen, in denen es zwar Unterschiede in der Sache gibt, menschlich aber (unabhängig von der Funktion) auf Augenhöhe kommuniziert wird.
Agilität ist deshalb nichts Neues sondern etwas zu tiefst Menschliches. Wir hatten es nur ein wenig vergessen. Deshalb kann es gar nicht so schwierig sein, dies umzusetzen. In meinem nächsten Beitrag erkläre ich Ihnen wie.”
Übrigens – in diesem Kontext betrachtet ist die Einführung agiler Methoden keine Agilität. Wenn dies nur der Steigerung des Unternehmensgewinnes dient und nicht den Menschen die Möglichkeit zur nachhaltigen persönlichen Entfaltung gibt, ist dies nur eines von vielen Projekten, die zum Scheitern verurteilt sind.aj
Sie finden diesen Artikel im Internet auf der Website:
https://itfm.link/73364
Schreiben Sie einen Kommentar