Warum Banken und Versicherer an durchgängigen End-to-End-Prozessen scheitern
Digitalisierung erfordert durchgängige End-to-End-Prozesse. Klassisches Business Process Management – oder etwa nicht? Nein! Denn die Finanzindustrie hat in ihre „digitalisierten“ Geschäftsprozesse immer noch zahlreiche manuelle Entscheidungen eingebettet, die ein Nadelöhr im Prozessablauf bilden. Sie sind ein Show-Stopper für „wahrhafte“ Digitalisierung, die nur durch vollständige und lückenlose Automatisierung gelingt.
von Volker Großmann, Chief Technology Officer Actico
Wer kennt nicht den populären Button auf den Websites der Retail-Banken:‘Jetzt Kredit beantragen’ ? Schnell das Web-Formular ausfüllen, Daten absenden und das Ergebnis abwarten – um dann enttäuscht zu werden:
‘Sie erhalten die Unterlagen in wenigen Tagen per Post.’
Ein durchgängiger, kundenorientierter Prozess ist das nicht, und ein digitaler erst recht nicht. In ähnlichem Zustand befindet sich allerdings das Gros der Geschäftsprozesse der Banken und Versicherungen. Warum bekommt die Finanzindustrie das Problem nicht in den Griff?”
Die Antwort: Bestimmte Prozessschritte sind schlicht zu komplex, geschäftskritisch und risikoreich für „altbewährte“ Methoden zur Digitalisierung. Beispiel: Ein typischer Kreditvergabeprozess im Consumer-Bereich kann hunderte von Entscheidungsregeln enthalten. Diese bewerten etwa Kundendaten, berechnen Kreditausfallwahrscheinlichkeiten und Zinsen und stellen zugleich die Einhaltung regulatorischer Vorgaben sicher. Was für den Endkunden in den Millisekunden zwischen zwei Klicks erfolgen kann, basiert häufig auf einer hochkomplexen, fachlichen Entscheidungslogik.
In vielen Instituten ist diese Entscheidungslogik ansatzweise digitalisiert: Mittels Tabellenkalkulation, in Form von Anwendungscode oder in BPMN-Modellen. Nun sind Tabellenkalkulationen nicht für Straight-Through-Processing geeignet. Anwendungscode ist zu intransparent und unflexibel. BPMN-Prozessmodelle sind auf die Abbildung von Abläufen ausgerichtet und für die Digitalisierung umfangreicher, sich häufig ändernder Fachlogik nicht geeignet.
DMN: Standard für Entscheidungen vermeidet Prozessbrüche
Seit 2011 befasst sich die Object Management Group (OMG) deshalb mit der Spezifikation eines Standards zur Beschreibung und Implementierung von Entscheidungen. Ziele dieses Standards – des Decision Model and Notation (DMN) – sind:
1. Trennung von Entscheidungen (Fachlogik) und Geschäftsprozessen (Ablauflogik), was zu schlankeren Prozessen und einer einfacheren Anpassung von Regeln und Entscheidungen führt.2. „Entscheidungs-Owner“ aus dem Fachbereich sollen durch grafische Entscheidungsmodelle und leicht verständliche Entscheidungslogik besser in Digitalisierungsprojekte einbezogen werden.
3. Wie andere Standards auch zielt DMN auf Zukunftssicherheit und Investitionsschutz ab.
Letztlich sprechen aber übergeordnete Argumente für den DMN-Standard. Erstens: Unternehmen bringen zum ersten Mal Transparenz in ihre Entscheidungen: Welche Daten fließen in die Entscheidungsfindung ein? Woher kommen diese Daten? Welche Entscheidungen hängen voneinander ab? Und vor allem: Werden alle regulatorischen Anforderungen in der (fachlichen) Entscheidung berücksichtigt? Das zweite Argument: Mit DMN können Institute ein unternehmensweit einheitliches Vorgehen einführen, wodurch sie den Wildwuchs an Methoden in den Projekten deutlich reduzieren. Drittens: Der DMN-Standard unterstützt Unternehmen bei der Digitalisierung. DMN definiert auch die Ausführung von Entscheidungsmodellen und ermöglicht so deren Automatisierung.
Der DMN-Standard spezifiziert im Grunde zwei Ebenen: Die Anforderungsebene und die Ausführungs- bzw. Implementierungsebene.”
Auf der Anforderungsebene zeigt das grafische Decision Requirements Diagram (DRD) „aus der Vogelperspektive“ auf, wie eine Entscheidung getroffen wird, welche Personen, Systeme und Daten beteiligt sind, und von welchen Sub-Entscheidungen sie abhängt.
Auf der Implementierungsebene wird die Entscheidungslogik definiert: In Form von Entscheidungstabellen (Decision Tables) oder gleich in Form der DMN-Ausdruckssprache FEEL (Friendly Enough Expression Language).
Wie mit DMN durchgängige Prozesse entstehen
Vorab: DMN ist als komplementärer Standard zu BPMN in diese Prozessmodelle integrierbar. Häufig ist eine Koppelung mit Prozessmodellen jedoch gar nicht nötig. Viele digitale Geschäftsmodelle sind vollständig entscheidungsbasiert und erfordern keine Ablaufsteuerung mehr. Stattdessen bilden sie Entscheidungsprozesse ganzheitlich mit DMN ab, die automatisiert Ergebnisse liefern. Beispiele sind Kreditentscheidungen in Echtzeit oder Customer-Next-Best-Actions im Online-Banking.
Die technische Ausführung und Integration erfolgt in der Regel durch Webservices, die von beliebigen Prozessen, Systemen und Anwendungen genutzt werden. Im Trend liegt ein zentraler Ansatz für diese „Decision Services“. Dabei werden Entscheidungsmodelle in einem zentralen Repository gespeichert und gepflegt. Von dort erfolgt eine konsistente Bereitstellung der Decision Services, die im gesamten Unternehmen und darüber hinaus als Shared Services gemeinsam genutzt werden.
Standards wie REST (Representational State Transfer) oder SOAP (Simple Object Access Protocol) sorgen für eine nahtlose Integration der Decision Services in die bestehende IT-Landschaft. Die Zentralisierung vereinfacht die Pflege bzw. die flexible Austauschbarkeit der Services. Zudem sorgen Governance-Funktionen dafür, dass alle Prozesse, Anwendungen und Kanäle stets die richtige Version des Decision Services nutzen. Dies ist etwa wichtig, wenn unterschiedliche zeitliche, regionale, fachliche oder regulatorische Gültigkeiten ins Spiel kommen.
Software für DMN: Standard ist nicht gleich Standard und modellieren ist nicht gleich automatisieren
Bei der Evaluierung von DMN-Software sollte Klarheit über das zu erreichende Ziel bestehen: Geht es nur um die Dokumentation von Entscheidungen? Dann reicht ein einfaches Modellierungs-Tool aus, das auch von der DMN-Standardspezifikation abweichen kann (niedriges Conformance Level, DMN-Modelle sind nur bedingt austauschbar). Heißt das Ziel hingegen Digitalisierung im Sinne der lückenlosen Automatisierung durchgehender Prozesse, so sollten Unternehmen den Fokus auf Anbieter mit einer leistungsstarken Plattform für Modellierung, Ausführung und Verwaltung legen.
Die vollständige Übereinstimmung mit den DMN-Standardspezifikationen (und damit Austauschbarkeit der Modelle) ist durch das Conformance Level 3 gekennzeichnet. Nur wenige Anbieter bieten entsprechende Plattformen. Diese Decision Management Suites unterstützen umfassend bei der Organisation, Verwaltung und Qualitätssicherung, was in der Praxis meist unabdingbar ist. Hierzu zählen etwa Governance- und Change-Management-Funktionen oder die Unterstützung von Teamarbeit. Unternehmen, die DMN-Software evaluieren, sollten deshalb entsprechende Anforderungen klären. Zum Beispiel:
1. Wie unterstützt die Software bei der Organisation und Strukturierung großer Projekte?2. Wie können Anwender Entscheidungsmodelle testen und deren Qualität sicherstellen?
3. Können organisatorische Freigabeprozesse realisiert werden?
4. Wie durchdacht ist das Versions- und Change-Management?
5. Sind sowohl Änderungen am Modell als auch getroffene Entscheidungen revisionssicher nachvollziehbar?
The Big Picture: Machine Learning vervollständigt das große Bild
Wir halten fest: Mit dem DMN-Standard bringen Unternehmen endlich Transparenz in ihre Entscheidungen. Sie automatisieren Entscheidungen und schaffen auf diese Weise durchgängige digitale Prozesse. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, zeigt sich das große Bild, das die Fähigkeiten des DMN-Standards und die Leistungsstärke intelligenter Technologien kombiniert.
In einem aktuellen Projekt kombiniert eine Bank das Wissen von Fachexperten mit dem Wissen aus historischen Daten, um bessere Ergebnisse bei der Betrugserkennung in Finanztransaktionen zu erzielen. Für die Betrugserkennung wurde zunächst ein ganzheitliches DMN-Anforderungsdiagramm erstellt (siehe Abbildung). Dieses Modell vereint Wissen von Fachexperten und Wissen aus Daten, um das bestmögliche Ergebnis zu liefern.
Das Wissen von Fachexperten umfasst fachliches (oder rechtliches) Wissen, das vorgegeben ist oder in den Köpfen der Mitarbeiter besteht. Im Beispiel werden Transaktionen aus und in festgelegte Embargoländer etwa grundsätzlich ausgeschlossen. Fachexperten (bzw. der Compliance-Beauftrage) pflegen eine entsprechende Liste dieser Länder selbständig in einer DMN-Entscheidungstabelle.
Es gibt jedoch auch komplexe Zusammenhänge, die nur durch eine maschinelle Analyse von historischen Daten aufgedeckt werden können. Zum Beispiel: Eine frühere Transaktion, die innerhalb von 10 Minuten an zwei 1.000 Kilometer entfernten Orten getätigt wurde, war betrügerisch motiviert. Ein Machine-Learning-Algorithmus deckt diesen Zusammenhang auf und speist nun das DMN-Modell.
Das übergeordnete DMN-Anforderungsmodell orchestriert im Beispiel also präskriptive Entscheidungstabellen und Machine-Learning-Algorithmen.Die Trefferquote in der Betrugserkennung konnte durch Einbezug des Machine-Learning-Algorithmus von rund 80 % auf über 95 % gesteigert werden.”
Das Beispiel zeigt: Entscheidungsautomatisierung schafft nicht nur durchgängige Prozesse. Sie ist die Basis für modernes Digital Banking, das nicht nur den Echtzeit-Anforderungen des Markts gerecht wird, sondern auch präziser, sicherer und effizienter ist.aj
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