STRATEGIE18. März 2025

BFSG: Versicherung für alle? Nicht wirklich! Aus­ge­rech­net die IT behindert Menschen mit Einschränkungen

Annemarie von Weihe, msg msg

Aktuell leben in Deutschland 7,4 Millionen (9,4%) Menschen mit einer Schwerbehinderung. Zudem entwickelt fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens motorische, sensorische und / oder kognitive Beeinträchtigungen. Umso fataler, dass der Großteil der Websites, Apps und digitalen Plattformen für Menschen mit Einschränkungen wenig zugänglich ist.

von Annemarie von Weihe, Axel Kotulla und Christian Butt, msg

Die EU hat das Thema Barrierefreiheit im Privatkundenbereich vor 6 Jahren in einer Richtline, dem European Accessibility Act (EAA), aufgegriffen und umgesetzt ((EU) 2019/882); mit dem Ziel, eine barrierefreie Nutzung von Produkten und Services für alle Menschen zu schaffen.
Axel Kotulla, msg msg

Im Jahre 2021 wurde diese EU-Richtline mit dem sogenannten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in deutsches Recht überführt. Ab Juni 2025 sind Verstöße eine Ordnungswidrigkeit.”

Um digitale Angebote ausreichend auf Konformität zu testen, ist ein systematisches Testvorgehen notwendig, was alle relevanten Elemente und Aspekte validiert.

Leitend sind hier die sogenannten „Funktionalen Leistungskriterien“ (BFSGV, §21), die eine Anwendung für die BFSG-Konformität aufweisen muss.”

Christian Butt, msg msg

Diese Kriterien spiegeln die älteren „Functional Perfomance Statements“ der für öffentliche Informationsangebote („BITV“) maßgeblichen EN 301 549 wider. Diese Norm definiert sogenannte Betriebs- oder Gebrauchsweisen, die IT-Anwendungen ermöglichen müssen, z.B. eine „usage without vision“ (d.h. eine Aktion muss ohne visuelle Wahrnehmung ausführbar sein, eine Information nicht-visuell rezipiert werden können). Analog gibt es Gebrauchsweisen für eingeschränktes Sehen, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Farbfehlsichtigkeit und noch weitere. Diese pauschal formulierten Anforderungen bilden die Grundlage für genaue technische Prüfungen, etwa auf die Verfügbarkeit einer Information auf einem „alternativen Sinneskanal“. Für Webinhalte und -anwendungen dienen die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) der w3.org als testbare Kriterienliste für Konformität in diesem Sinne.

Die aktuelle Lage in der Versicherungsbranche

Drei Jahre nach der Veröffentlichung der implementierenden Verordnung (BFSGV) zum BFSG zeigt sich, dass die Versicherungsbranche noch nicht ausreichend vorbereitet ist und im Hinblick auf die Anforderungen des BFSG schlecht abschneidet.

In einem Quick-Check haben KPMG und msg gemeinsam exemplarisch jeweils die Startseite und eine Antragsstrecke bei 65 Versicherungshäusern genauer betrachtet (Prüfzeitraum Dezember 2024). Hierbei wurden nur zehn der insgesamt 88 relevanten WCAG-Prüfschritte herangezogen, um den Reifegrad in Bezug auf die Umsetzung des BFSGs zu bewerten.

Das Ergebnis war ernüchternd: 95 % der Versicherungen haben die Anforderungen des BFSG noch nicht oder nur teilweise umgesetzt.”

Autorin: Annemarie von Weihe, msg
Annemarie von Weihe absolvierte erfolgreich ihr Studium der Geisteswissenschaften an der Universität zu Köln. Ihre berufliche Laufbahn führte sie unter anderem zur Kienbaum Consultants International GmbH, wo sie in verschiedenen Positionen wertvolle Erfahrung im Vertriebsmanagement und in der Prozessoptimierung sammelte.

12% der Startseiten waren zumindest insoweit barrierefrei, dass unsere Testpersonen hier navigieren und den Kontext erfassen konnten – bei den Antragsstrecken waren es immerhin 21%, die grundsätzlich eine Navigation zuließen, jedoch war nur eine Strecke 100% barrierefrei.

Welche Prüfkriterien wurden im msg Quick-Check angewandt?

  1. Grafiken und Alternativtexte: Werden Bilder und grafische Bedienelemente mit passenden Alternativtexten versehen? Dies ist essenziell für seheingeschränkte Nutzer, um Inhalte wahrnehmen zu können.
  2. Semantische HTML-Struktur: Sind die HTML-Strukturelemente korrekt ausgezeichnet? Dies betrifft Überschriften, Listen und Formularelemente. Dies ist wichtig für die nicht-visuelle Navigation mit Screenreader-Software.
  3. Textkontrast: Ist der Kontrast zwischen Text und Hintergrund ausreichend für Nutzer mit Sehschwächen (oder für den Einsatz bei schlechten Lichtverhältnissen)?
  4. Zoomfähigkeit: Lassen sich Texte auf bis zu 200 % vergrößern, ohne dass Inhalte in bestimmten Bedienungskontexten unlesbar werden?
  5. Tastaturbedienbarkeit: Ist die Webseite vollständig nur mit der Tastatur navigierbar? Enthält sie „Tastaturfallen“, die etwa Mausbedienung obligatorisch macht?
  6. Aussagekräftige Dokumententitel: Besitzen die Seitentitel klare und sinnvolle Beschreibungen?
  7. Logische Fokusreihenfolge: Entspricht die Reihenfolge der Elemente bei Tastaturnavigation der visuellen Anordnung?
  8. Verständliche Linktexte: Sind die Linktexte selbsterklärend oder ergibt sich der Kontext nur aus der „Umgebung“?
  9. Sichtbarkeit des Fokus: Wird der Eingabefokus bei der Tastaturbenutzung immer klar hervorgehoben?
  10. Hilfestellung bei Eingabefehlern: Werden detaillierte und hilfreiche Fehlermeldungen angezeigt? Gibt es Eingabe-Unterstützung?
Autor: Axel Kotulla, msg
Axel Kotulla legt viel Wert auf BSFG und Barrierefreiheit.Axel Kotulla begann sei­ne Kar­rie­re nach dem Stu­di­um der In­for­ma­tik an der RWTH Aa­chen bei Ac­cen­ture, wo er SAP in al­len Fa­cet­ten ken­nen­lern­te. Seit 2002 war er für ver­schie­de­ne Un­ter­neh­men in der Erst- und Rück­ver­si­che­rungs­bran­che als Pro­gramm­lei­ter und Ar­chi­tekt tä­tig. Ak­tu­ell lei­tet er den Ge­schäfts­be­reich Ver­si­che­run­gen bei msg (Website).

Welche Mängel wurden hauptsächlich gefunden?

  • Grafik-Buttons ohne Alternativtext: Nutzer, die auf Screenreader angewiesen sind, können die Funktion von Schaltflächen ohne „vorlesbaren“ Alternativtext nicht erfassen.
  • Fehlende Beschriftungen in Formularelementen: Eingabefelder ohne semantische Labels sind für Nutzer von Spracherkennungssoftware unzugänglich.
  • Geringer Textkontrast: Nutzer mit Sehbehinderungen können Inhalte nicht ausreichend erkennen.
  • Unzureichende Zoomfunktionalität: Nach der Vergrößerung überlappen Texte oder werden abgeschnitten.

Bedeutung von Barrierefreiheit für Versicherer und Konsequenzen bei Nichteinhaltung

Versicherer und andere Anbieter digitaler Dienste sollten dringend alle Barrieren beseitigen, um konform mit dem BFSG zu sein.

Verstöße können bei einer Anzeige oder Meldung ab dem 28. Juni 2025 mit Strafen bis zu 100.000 Euro geahndet werden.”

Autor: Christian Butt, msg
Christian Butts berufliche Lauf­bahn be­gann in der Ver­si­che­rungs-IT, wo er früh­zei­tig sei­nen Fo­kus auf Soft­ware­qua­li­täts­si­che­rung, Test­ma­nage­ment und Pro­zess­op­ti­mie­rung leg­te. Butts Know-how umfasst Qua­li­täts­ma­nage­ment-Me­tho­den, Um­gang mit Test­ma­nage­ment- und Au­to­ma­ti­sie­rungs­tools wie Mi­cro Fo­cus ALM / Qua­li­ty Cen­ter, UFT One, At­las­si­an Ji­ra und Soa­pUI. Zu­dem Da­ten­ban­ken wie Ora­cle und DB/2 so­wie in der Pro­zess­mo­del­lie­rung mit ARIS. Als IS­T­QB-zer­ti­fi­zier­ter Test­ma­na­ger bei msg (Website) trägt Butt ma­ß­geb­lich zur Op­ti­mie­rung von Test­pro­zes­sen bei und en­ga­gier­te sich in den letz­ten Jah­ren ins­be­son­de­re für die Ent­wick­lung bar­rie­re­frei­er di­gi­ta­ler Lösungen.
Zudem können digitale Angebote bei Nichteinhaltung untersagt werden, das bedeutet, dass diese digitalen Angebote vom Netz genommen werden müssten. Der Reputationsschaden, den Versicherer erleiden können, wenn sie nicht BFSG-konform sind, kann erheblich sein. Versicherer, die hier nachlässig sind, müssen den Verlust von Kundenvertrauen befürchten. In einer Zeit, in der die Öffentlichkeit zunehmend auf soziale Verantwortung und gesetzliche Compliance setzt, kann ein Verstoß gegen das BFSG so zu einem allgemeinen Imageschaden führen. Denn Endkunden bevorzugen im Allgemeinen Unternehmen, die als gesetzeskonform und vertrauenswürdig gelten.

Neben Strafen, Sanktionen und Reputationsschäden eröffnen sich für die Assekuranz aber auch neue Chancen: Denn Versicherungen, die Inklusion fördern und barrierefreie Dienstleistungen anbieten, stärken ihre Marke und demonstrieren gesellschaftliche Verantwortung. Dies kann das Vertrauen stärken und die Kundenbindung verbessern. Zudem gewinnt man Zugang zu einer Kundengruppe, die bisher keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Versicherungen hatte. Menschen mit Einschränkungen repräsentieren eine bedeutende Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Bedürfnissen, die durch barrierefreie Dienstleistungen nun erreicht werden können. In einem hart umkämpften Markt wäre es fahrlässig, etwa 10 % der Bevölkerung als potenzielle Kunden zu ignorieren.

Annemarie von Weihe absolvierte erfolgreich ihr Studium der Geisteswissenschaften an der Universität zu Köln. Ihre berufliche Laufbahn führte sie unter anderem zur Kienbaum Consultants International GmbH, wo sie in verschiedenen Positionen wertvolle Erfahrung im Vertriebsmanagement und in der Prozessoptimierung sammelte.Annemarie von Weihe, Axel Kotulla, Christian Butt, msg

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