Praxis-Ratgeber: Worauf Versicherer bei der Kernsystem-Auswahl unbedingt achten sollten
“Never change a running system” – die goldene IT-Regel trifft wohl auf Versicherer-Kernsysteme besonders zu. In Zeiten des digitalen Wandels ist allerdings auch Stillstand gefährlich. Deshalb: Wenn der Vorteil erheblich ist, lohnt sich die Mühe. Jannik Harms (IT Projectmanager bei Sollers Consulting) zeigt, welche wichtigen Schritte zur Vorbereitung und Auswahl gegangen werden müssen.
von Jannik Harms, IT Projectmanager bei Sollers Consulting
Vor der Auswahl eines neuen Kernsystem sollte man sich intensiv mit den strategischen Zielen des Unternehmens beschäftigen. 1. Neben fachlichen Alleinstellungsmerkmalen und kompetitiven Vorteilen auf dem Markt sollte die Analyse die Ziele der IT-Strategie des Unternehmens definieren. 2. In einem zweiten Schritt muss die Unternehmens-Architektur unter Berücksichtigung der Vision und der geschäftlichen Anforderungen betrachtet werden, um zu entscheiden, welche Komponenten genau zu ersetzen sind. Die Systemumstellung ist ein umfangreiches Projekt, entsprechend sollten mögliche Hindernisse frühzeitig identifiziert werden, um sie im Laufe des anstehenden Projekts zu beseitigen und zu überwinden. 3. Im dritten Schritt müssen auf dem Markt verfügbare Lösungen verglichen werden. Wenn die Zielarchitektur bereits bekannt ist, geht es darum, die Lösung zu finden, die am besten zu dem neuen Unternehmens-Modell passt.- Restriktionen der bestehenden Technologien führen zu Hindernissen bei der Weiterentwicklung und erschweren die Wartung. Dies betrifft die Kernanwendung oder deren Komponenten wie die Datenbanken. Die mangelnde Unterstützung erhöht das operative Risiko erheblich und führt zu hohen Infrastruktur-Kosten.
- Es kommt zu personellen Engpässen bei Mitarbeitern, die über Programmierkenntnisse in den alten und nicht wachsenden Programmiersprachen wie COBOL verfügen.
- Es ist nicht möglich, alte Anwendungen in eine Cloud-Umgebung zu verlagern.
- Es kommt immer wieder zu Schwierigkeiten bei der Aktualisierung technologischer Komponenten, z.B. der Browserversion.
- Alte Technologien wirken sich auch auf die Komplexität bei der Implementierung von modernen Lösungen im Bereich Cybersicherheit aus, was ein erhöhtes Risiko für die Kernbereiche eines Versicherers zur Folge hat.
Größere Flexibilität erlangen
Bei der Überprüfung der individuellen Funktionalitäten des neuen Kernsystems geht es um eine große Zahl einzelner Aspekte. Ich möchte hier nur einige nennen:
Konfiguration: Es ist wichtig, dass das Kernsystem in der Lage ist, sich einfach an ständig wandelnde Business-Anforderungen anzupassen. Also sollte darauf geachtet werden, dass das System eine GUI-basierte Konfiguration für die Erstellung neuer Screens und verknüpfter Geschäftsregeln unterstützt. Dadurch werden Änderungen möglich, die nicht nur durch Programmierer, sondern auch von Fachbereichen vorgenommen werden können. Die Datenmodelle müssen mit geringem Zeitaufwand anpassbar sein und Schnittstellen sollten offen definiert sein, um neue Felder schnell übernehmen zu können. Die Datenmodelle müssen mit geringem Zeitaufwand anpassbar sein und Schnittstellen sollten offen definiert sein, um neue Felder schnell übernehmen zu können.
Sehr hilfreiche Funktionalitäten bietet auch die Unterstützung von BPM-Funktionen (Business Process Management). Dazu gehört beispielsweise die Möglichkeit, Workflows zu erstellen, zu verwalten und zu überprüfen, Geschäftsregeln zu bearbeiten und die Nutzerverwaltung anzupassen.
In einer sich schnell wandelnden Umwelt sind schnelle Änderungen äußerst wichtig. Entsprechend ist bei der Entwicklung von Integrationen eine einfache Anpassbarkeit von großer Bedeutung.”
Wenn die Benutzeroberfläche der gesamten Anwendung durch Konfiguration zugänglich ist, erlaubt dies zudem eine bessere Kontrolle über die Benutzererfahrung. Diese wird im Optimalfall benutzergruppenspezifisch aufgebaut, wodurch die Produktivität der Sachbearbeiter gesteigert werden kann. Eine durch Konfiguration zugängliche Benutzerüberfläche ermöglicht die Anzeige von individuell hinzugefügten Feldern im Datenmodell. Ein wichtiger Bestandteil ist es, Aufgaben in der Produktkonfiguration verschiedenen Rollen zuzuordnen und Arbeitspakete zur Produktdefinition bis zur Produktion zu verwalten.
Produkt- und Policen-Management: Ein wichtiges Auswahlkriterium stellt die Flexibilität bei der Konfiguration von Sachversicherungsprodukten verschiedener Sparten dar. Die Lösung adressiert die Business-Anforderungen, wenn sie über Konfigurationswerkzeuge für Produktdefinition und Tarifierung verfügt und alle Aspekte der Produktdefinition über Parameter verfügbar sind. Ein weiterer Vorteil liegt in der Bereitstellung vorkonfigurierter Libraries, um die Produktentwicklung und das Deployment zu beschleunigen.
Multikanal-Unterstützung: Das neue Kernsystem sollte multikanalfähige Kundenansprache unterstützen, bspw. durch Agenten, den Kundendienst und Self-Services. Die Lösung sollte über eine Auswahl an Optionen für Web- sowie mobile Applikationen verfügen, von umfassenden Out-of-the-Box-Lösungen für Portale bis hin zu anpassbaren Lösungen, die Web-Services zur Integration nutzen. Web-Services sollten alle wichtigen Prozesse abdecken, neue Systeme sollten Standard-Schnittstellen wie BiPRO für eine einfache und schnelle Anbindung von Partnern unterstützen.
Vorbereitung auf die Cloud
Inkasso/Exkasso-Management: Gute Sachversicherungssysteme sollten in der Lage sein, mehrere Zahlungspläne, Zahlungsfrequenzen und Zahlungsmethoden zu verarbeiten, die während der Vertragslaufzeit angepasst werden können. Ein zentrales Element ist auch die Möglichkeit, bei den Abrechnungen auf Kunden abzustellen und nicht auf individuelle Policen. Diese Funktionalität unterstützt kundenzentrierte Lösungen. Darüber hinaus ist es notwendig, dass das Kernsystem über umfangreiche Möglichkeiten zur Konfiguration von Abrechnungsperioden und zur Verarbeitung von Ein- und Auszahlungen für Kunden und Agenten oder Makler verfügt.
Schadensmanagement: Die Anwendung benötigt umfangreiche Funktionen zur Unterstützung des Schadensmanagements und sollte dazu befähigt werden, die Schadenerstaufnahmen (FNOL) selbstständig zu erkennen und verschiedenen Teams zuzuweisen. Die fortschrittlichsten Lösungen bieten mobile Apps für Schadenregulierer und Portallösungen für Partner, um Services outzusourcen und Benachrichtigungen zu erhalten sowie Schadensdetails in Echtzeit zu aktualisieren.
Eine Lösung sollte zudem Optionen zur automatisierten Erkennung von Betrugsfällen umfassen oder einfach integrieren können.”
Modularität: Ein weiteres wichtiges Kriterium stellt die Flexibilität des Lizenzmodells dar. Wird ein System in verschiedenen Lizenzmodellen inklusive Software-as-a-Service angeboten, erlaubt dies Versicherern, sich an neue Anforderungen anzupassen. Zudem ergibt sich daraus die Möglichkeit, das Lizenzmodell, wenn nötig, zu ändern. Die Auswahl über ein Deployment einer Lösung on-premise oder in einer Cloud-Umgebung ermöglicht die Anpassung an die jeweilige Architektur. Auch die Modularität einer Lösung sollte betrachtet werden. Das gibt die Möglichkeit, nur die Elemente zu nutzen, die wirklich benötigt werden. So wird die Wiederverwendung von bereits existierenden Systemen in der Architektur möglich, die bereits produktiv sind und keine Umstellung benötigen.
Erweiterung auf weitere Gesellschaften:
Viele große Versicherungsgruppen betreiben mehrere Versicherer, die Schadenversicherungsprodukte anbieten. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt sollte man überprüfen, ob das Kernsystem in der Lage ist, mehrere Gesellschaften abzubilden.”
Cloud: Es gibt zwei große Versicherer, die ihre Kernsystem-Landschaft neu in einer Cloud-Version entwickeln. Andere Versicherer haben bereits gute Erfahrung mit einem einfachen “Lift and Shift” Verfahren gemacht. Die Vorteile sind allerdings bei der Umgestaltung der IT-Landschaft in eine Cloud-native Umgebung größer. Man darf nicht vergessen, dass SaaS-Systeme auch einige Risiken mit sich bringen, unter anderem die starke Bindung an den Anbieter oder funktionale oder regionale Einschränkungen. Für proprietäre Systeme, die intern von Versicherern entwickelt werden, kann auch eine PaaS-Strategie optimal sein.
Der Schlüssel zum Erfolg
Die Ablösung eines Kernsystems stellt für jeden Versicherer eine große Herausforderung dar. Vor dem Start eines solchen Projekts sollte man deshalb möglichst alle relevanten Aspekte und Funktionalitäten in Betracht ziehen und sich nicht allein auf die Faktoren Zeit und Budget beschränken.
Zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren gehört es, einen Wandel der Geschäfts-Prozesse in der gesamten Organisation herbeizuführen und Modifizierungen in den unterstützenden Anwendungen vorzunehmen.”
Ein solches Programm umfasst in den meisten Fällen nicht nur den Wechsel einer technischen Komponente, sondern ist auch eine Business-Transformation.
Einige Versicherer scheuen vor der Umstellung auf ein modernes Standardsystem noch zurück. Das liegt vor allem an Bedenken gegenüber dem Aufwand, der für die Umstellung nötig ist. Doch bei richtiger Projektführung kann ein Versicherer in kleinen Schritten schon früh Vorteile erzielen. Nach einer gelungenen Umstellung machen die Vorteile den Aufwand der Umstellung um ein Vielfaches wett. Versicherer sollten deshalb mit der Ablösung ihrer alten Back-ends nicht zu lange abwarten.Jannik Harms, Sollers Consulting
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