Corona-Krise und der geforderte Staat – Rede von Bundesbankpräsident Dr. Weidmann
Vor dem Übersee-Club in Hamburg referierte der Präsident der Deutschen Bundesbank, Dr. Jens Weidmann, über die Aufgaben und Maßnahmen des Staates angesichts der aktuellen Corona-Krise. Neben Lob für das rasche und entschlossene Handeln mahnt er auch an, getroffene Maßnahmen regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen und diese als klar begrenzte Krisenmaßnahmen zu sehen. Eine Zusammenfassung seiner Rede.
von Dr. Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank
Die Corona-Pandemie dominiert derzeit die öffentliche Debatte und das politische Handeln. Sie lastet schwer auf der Wirtschaft und beeinträchtigt unser aller Leben.Roman Herzog warnte 1992, der Staat bürde sich immer mehr Aufgaben auf, die er dann nur noch bruchstückhaft lösen könne. Ein „immer Mehr“ an Aufgaben stoße auch an die Grenzen der Finanzierbarkeit. Am Ende drohe ein Staat, den seine Bürger als erfolglos erleben. Herzogs prägnantes Fazit lautete: „Der Staat muss sich entlasten.“
Es hat länger gedauert, als Roman Herzog es sich gewünscht hat. Erst nach 2003 begann der Staat, seine Ausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung tendenziell zu senken: Immerhin fiel die sogenannte Staatsquote von 48 % auf 45 % im vergangenen Jahr.
Derzeit aber ist der Staat in einem Maße gefordert wie selten zuvor. Wegen der Pandemie musste er massiv in den Alltag seiner Bürgerinnen und Bürger eingreifen – zum Schutz von Leben und Gesundheit. Zugleich hat er Hilfsprogramme historischen Ausmaßes aufgelegt, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu mildern: Der Staat schultert derzeit eine schwere finanzielle Last, damit Haushalte und Unternehmen besser durch die Krise kommen. Kann der Staat diese Last tragen oder droht er, überfordert zu werden?
Die Corona-Krise und die deutsche Wirtschaft
Die Pandemie hat zur schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik geführt. Tiefe und Tempo des Einbruchs sind beispiellos: In nur einem Quartal brach die Wirtschaftsleistung um ein Zehntel ein.
Ein Grund dafür waren die strengen Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Damit hat der Staat auch das Wirtschaftsleben heruntergefahren. Zudem sind Konsumenten und Unternehmen vorsichtig geworden. Viele Firmen haben ihre Investitionen zurückgeschraubt, denn große Brocken ihres Geschäfts sind plötzlich weggebrochen – im Inland, aber auch im Ausland. Vor allem aber fehlt ihnen eine verlässliche Perspektive, weil die Unsicherheit über den Fortgang der Pandemie so groß ist.
Als die Schutzmaßnahmen gelockert werden konnten, fassten die Menschen wieder mehr Zuversicht. Und die Wirtschaft begann, sich zu erholen. Leider kommen nicht alle Branchen so schnell in Gang, etwa der Freizeitbereich und die Reisebranche. Außerdem gilt: Unsere offene Wirtschaft kann sich nur dann vollständig erholen, wenn auch unsere Handelspartner wieder auf die Beine kommen. Insgesamt sollte das wohl sehr kräftige Wachstum in den Sommermonaten keine falschen Hoffnungen schüren: Die Erholung unserer Wirtschaft wird sich hinziehen.
Für die Erholung ist wichtig, dass die Pandemie die Wirtschaft immer weniger beeinträchtigt. Genau das ist aber alles andere als selbstverständlich, denn die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland und wichtigen Partnerländern zieht tendenziell wieder an. Von wesentlicher Bedeutung für die weitere wirtschaftliche Entwicklung dürfte daher das Infektionsgeschehen sein, auf das auch unser individuelles Verhalten Einfluss hat.
Die Probleme dürfen sich nicht über Zweitrundeneffekte tiefer in die Wirtschaft hineingraben. Beispielsweise gilt es, eine breite Welle von Unternehmensinsolvenzen zu verhindern. Denn eine solche Welle würde funktionierende Unternehmensstrukturen zerschlagen und zahlreiche Arbeitsplätze vernichten. Durch eine breite Insolvenzwelle könnte auch die Zahl der Kreditausfälle kräftig steigen. Geballte Kreditausfälle bergen immer auch ein Risiko für die Finanzstabilität.
Staatliche Hilfsmaßnahmen und mögliche langfristige Auswirkungen
Der Staat hat sich der Gefahr einer Abwärtsspirale entschlossen entgegengestellt: Er überbrückt Einnahmeausfälle von Unternehmen, indem er Transfers leistet, Steuern stundet, Kredite garantiert oder sich sogar selbst mit Kapital an Firmen beteiligt.
Die Fiskalpolitik hilft auch den Menschen finanziell durch diese schwere Zeit. So hat der Staat das Kurzarbeitergeld, die Grundsicherung und das Arbeitslosengeld großzügiger gestaltet, Verdienstausfälle durch Kinderbetreuung gleicht er teilweise aus.
Eine umfassende und schnelle Reaktion der Fiskalpolitik in der Krise ist richtig. Sie leistet einen wichtigen Beitrag, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Dabei sollte der Staat immer wieder prüfen, ob Umfang und Dauer seiner Hilfsprogramme angemessen sind. Diese Prüfung sollte ebenfalls berücksichtigen, ob die Hilfen zielgenau wirken oder inwieweit sie Fehlanreize setzen.
Das Kurzarbeitergeld hilft Firmen, Beschäftigte zu halten, die sie nach der Krise wieder brauchen. Es könnte aber auch Arbeitskräfte an Unternehmen binden, die keine Zukunft haben, und so Strukturen einfrieren, die obsolet sind. Je länger wirtschaftliche Probleme anhalten, desto fraglicher wird der Einsatz des Kurzarbeitergeldes als Überbrückungsinstrument.”
Die Erfahrungen der Finanzkrise liefern allerdings keine Belege für verschleppten Strukturwandel. Möglicherweise wiegen die Fehlanreize aber heute schwerer als damals. Die Pandemie hat das Potenzial, den Strukturwandel in unserer Wirtschaft deutlich zu beschleunigen. Zum Beispiel könnte die Digitalisierung einen kräftigen Schub erfahren und die Arbeitswelt sich dauerhaft verändern.
Es bleibt aber eine Gratwanderung. Und es wäre wichtig, im Gegenzug andere Sonderregelungen zum Kurzarbeitergeld auf den Prüfstand zu stellen, etwa die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge. Letztlich sollte der Staat das Risiko mindern, dass Unternehmen das Kurzarbeitergeld nutzen, um Geschäftsmodelle ohne Zukunft zu erhalten.
Der Staat muss auch aufpassen, nicht zu sehr in Unternehmensentscheidungen hineinzuregieren. Der Staat ist eben nicht der bessere Unternehmer. Die Monopolkommission mahnt in ihrem jüngsten Gutachten, dass Hilfen für einzelne Unternehmen den Wettbewerb verzerren können. Deshalb drängt die Monopolkommission zum Ausstieg, sobald es die wirtschaftliche Situation der Unternehmen erlaubt.
Klar positiv bewertet die Monopolkommission die Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Gerade junge, innovative Firmen beleben den Wettbewerb, haben aber jetzt Schwierigkeiten, sich zu finanzieren. Staatshilfen an dieser Stelle können der Gefahr entgegenwirken, dass die Marktkonzentration durch Insolvenzen oder Übernahmen in der Krise zunimmt. So wird letztlich der Wettbewerb geschützt.
Der Wettbewerb ist eine der Säulen, auf der unser Wohlstand ruht. Eine zweite Säule ist die Einbindung Deutschlands in die Weltwirtschaft. In der Corona-Krise sind aber globale Lieferketten vorübergehend gerissen. Jedoch sind internationale Wertschöpfungsketten nicht per se riskant. Problematisch ist die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten, Standorten oder Kunden. Unternehmen sollten eher mehrere Zulieferer aus verschiedenen Ländern einbinden.
Wer allein aufs Inland als Produktionsstandort setzt, verzichtet auf die Vorteile der Diversifikation und der regionalen Spezialisierung. Am Ende würden die Verbraucher die Zeche zahlen – in Form höherer Preise oder geringerer Auswahl.
Öffentliche Finanzen
Die Corona-Krise verlangt von der Wirtschafts- und Fiskalpolitik einen Spagat: Es gilt, kurzfristig die Wirtschaft zu unterstützen, ohne den notwendigen Wandel zu behindern und ohne die längerfristigen Herausforderungen aus dem Blick zu verlieren.
Ich verstehe es, wenn viele Bürgerinnen und Bürger sich Sorgen machen. Die Bundesbank schätzt, dass die deutschen Staatsschulden sprunghaft steigen werden: von rund 60 % der Wirtschaftsleistung in Richtung 75 % im laufenden Jahr. Bereits in der Finanzkrise hatte die Schuldenquote von 66 % auf 82 % angezogen, bevor sie wieder abgebaut wurde.
Deutschland kann diese Schuldenlast tragen. Der Staat hat verhindert, dass die Wirtschaft noch tiefer einbricht.
Wichtig ist dabei, dass alle Maßnahmen eindeutig befristet sind. Dann bilden sich Belastungen der öffentlichen Haushalte wieder zurück. Es kommt nach der Krise darauf an, die hohe Schuldenquote wieder zurückzuführen. Denn die Pandemie führt uns gerade vor Augen, wie wichtig solide öffentliche Finanzen sind: Sie machen den Staat handlungsfähig und stark.
Einige unserer europäischen Partnerländer verfügen nur über einen engeren finanziellen Spielraum. Mitunter hat die Pandemie aber gerade diese Länder noch stärker getroffen. In Zeiten der akuten Krise ist daher Solidarität geboten. Den Umfang dieser Unterstützung muss freilich die Politik bestimmen.
Der europäische Hilfsfond sollte aber auch dazu beitragen, die Widerstandsfähigkeit der Mitgliedsländer und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften zu stärken. Dafür ist es entscheidend, dass Hilfen aus dem Wiederaufbaufond mit Reformen einhergehen. Solche Reformen sind zwar oft wenig populär, aber sie wären auch ein Ausdruck von Solidarität, weil sie die Gemeinschaft in der nächsten Krise entlasten würden.
Ein Novum des Wiederaufbauplans ist, dass er über eine Kreditaufnahme der EU finanziert wird. Diesen Aspekt halte ich für bedenklich. Hier könnte eine Art Schuldenillusion genährt werden, wenn die EU-Schulden nicht in den nationalen Statistiken auftauchen und ihre Tilgung weit in die Zukunft verschoben wird. Eine Finanzierung über Beiträge der EU-Staaten wäre hier naheliegender und transparenter gewesen.”
Es wäre eine Illusion zu glauben, dass man Schulden verschwinden lassen könnte, wenn sie nur von der EU aufgenommen werden. Denn am Ende sind auch diese Schulden wie nationale Schulden zu bedienen, nämlich von den Steuerzahlenden.
Es gibt noch einen weiteren grundsätzlichen Kritikpunkt: Ausgaben des EU-Haushalts über gemeinsame langfristige Schulden zu finanzieren, passt nicht zum bestehenden Ordnungsrahmen der EU. Denn bisher haben die Mitgliedstaaten das letzte Wort über die Finanzpolitik.
Handeln und Haften gehören zusammen. Das heißt: Über die Finanzen sollte die Ebene entscheiden, welche auch finanziell haftet. Wer die Haftung auf die Gemeinschaftsebene verschieben möchte, müsste auch bereit sein, fiskalpolitische Befugnisse dorthin zu verlagern. Für einen solchen Schritt zeichnet sich derzeit keine Bereitschaft ab.
Die Schuldenfinanzierung des EU-Haushalts sollte deshalb eine klar begrenzte Krisenmaßnahme bleiben und nicht der Türöffner sein für eine dauerhafte Verschuldung der EU.”
Europa kann sehr wohl auch ohne umfangreiche Transfers zwischen den Mitgliedstaaten funktionieren. Entscheidend dafür ist, dass die Mitgliedstaaten nach der Krise zu soliden Staatsfinanzen finden. Diese halten der Geldpolitik den Rücken frei, damit sie sich auf ihr Mandat der Preisstabilität konzentrieren kann. Genau deshalb wurden in den Europäischen Verträgen auch Haushaltsregeln festgeschrieben.
Geldpolitik
Die Krise fordert auch die Geldpolitik. Denn eine umfassende Versorgung der Banken mit Liquidität und niedrige Zinsen tragen dazu bei, dass das Finanzsystem die Krise in der Wirtschaft nicht noch verschärft.
Deshalb hat der EZB-Rat schnell und entschlossen reagiert. Besonders im öffentlichen Fokus standen die Kaufprogramme: Hier hat der EZB-Rat sowohl das bestehende Programm ausgeweitet als auch ein neues, Pandemie-spezifisches Notfallankaufprogramm aufgelegt, das PEPP.
Sie kennen meine grundsätzliche Skepsis gegenüber umfangreichen Staatsanleihekäufen. Diese bergen nämlich die Gefahr, die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik zu verwischen. Das ist gerade im Kontext der Währungsunion problematisch.”
Das Eurosystem ist bereits durch Kaufprogramme vor der Corona-Krise zum größten Gläubiger der Staaten geworden. Das schwächt die Disziplinierung der Fiskalpolitik durch die Marktkräfte, und die Anreize zu solidem Haushalten schwinden.
Insgesamt gewichte ich die Risiken der Staatsanleihekäufe hoch. Hier ist ebenfalls eine laufende Abwägung erforderlich, die Wirkungen und mögliche Nebenwirkungen einbeziehen muss.
Auch in Krisenzeiten kommt es in der Geldpolitik auf das richtige Maß an, auf die Wahl der passenden Instrumente und auf eine kluge Ausgestaltung der Programme. Bei der Entscheidung über das PEPP war mir besonders wichtig, dass es zeitlich begrenzt und eindeutig an die Krise gebunden ist: Nach der Krise müssen die geldpolitischen Notfallmaßnahmen wieder zurückgefahren werden.
Fazit
Der Staat hat in der Corona-Krise rasch und umfassend gehandelt. Genauso wichtig wird sein, den Ausstieg aus dem Krisenmodus zu finden. Wir müssen darauf achten, in welche Richtung wir die Weichen für die Zukunft stellen.
Wettbewerbliche und widerstandsfähige Volkswirtschaften, solide öffentliche Finanzen und eine Geldpolitik, die klar auf Preisstabilität ausgerichtet ist, sind Grundlagen und Prinzipien, die Europas Wohlstand sichern.
Die vollständige Rede können Sie hier nachlesen.pp
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